Ghetto-Oma: Ein Leben mit dem Rücken zur Tafel
lassen Hals und Nacken erahnen. Von den Haaren sieht man jedoch nichts, denn die werden zwar auf dem Hinterkopf unfassbar hoch aufgetürmt, sind aber unter einem kleinen, schlauchartigen Unterkopftuch, dem Bone, versteckt. Reichen den Mädchen die Haare von ihrer Menge her nicht aus, wird mit einer Tuch- oder Watteeinlage Volumen vorgetäuscht. Ein schmaler Streifen des Bones guckt vorne aus dem Kopftuch heraus. Manche Mädchen tragen auch ein Bone, das vorne ein schmales Schirmchen wie ein Käppi hat. Weil das «Spiel» mit den Haaren ausfällt, legen die Mädchen ihre ganze Phantasie in das Gestalten ihres Kopftuchs. Von Glitzerstoff über Schmuck bis zu diversen Klämmerchen, Nadeln zum Befestigen, Borten, Spitzen und Rüschen ist alles erlaubt, was gefällt. Auch die Kleidung dieser Klientel ist modisch: hautenge schwarze Leggins unter einem kurzen Rock, ein körpernahes T-Shirt, Ballerinas oder High Heels. Die Haut ist verhüllt, aber die Konturen bleiben gut sichtbar. Fettes Make-up vervollständigt das Ganze. «Disco-Islam» nennt Frau Freitags Freund das.
Wie man sieht, ist Kopftuch nicht gleich Kopftuch, und jede Trägerin findet irgendwo zwischen Trachtengruppe und Disco-Islam ihren persönlichen Style. Ich hätte mir jedenfalls niemals träumen lassen, dass in unserer Gesellschaft das Kopftuch eine derart steile Karriere als Markenzeichen einer selbstbewussten muslimischen Herkunft machen würde.
«Bin ich Knecht?»
Diese Kinder! Ich frage mich, wie das im Berufspraktikum werden soll, denn sofort nach den Herbstferien geht’s los. Teilweise ist es ja wirklich rührend, wie naiv sie sind, aber teilweise kotzt es mich auch an, mit welch laxer Einstellung sie an die Sache rangehen.
Statt Ethik ist heute in der achten Stunde das Praktikum dran. Einige Jungen haben sich immer noch keinen Platz gesucht, deshalb müssen sie in eine Art Berufsschule gehen und dort verschiedene Gewerke kennenlernen. Sie sollen dann jeden Morgen schon um acht Uhr da aufschlagen. Fatalerweise liegt die Berufsschule in einem weit entfernten Stadtteil. Innerlich bin ich voll schadenfroh und bitte mit ernstem Gesicht um äußerste Pünktlichkeit, was allerdings illusorisch sein dürfte – heute waren zur ersten Stunde von einundzwanzig Leutchen genau sieben pünktlich.
«Sooo frühhhhh», entsetzt sich Mustafa. «Das geht nich, Frl. Krise. Ich kenn mich nicht aus da.»
«Dann würde ich in den vierzehn Tagen Herbstferien mal dahin fahren und alles auskundschaften», empfehle ich ihm warm.
«Niemals!» Mustafa ist empört. «Ich hab Ferien, Alta.»
Ich verbitte mir das «Alta» und eröffne eine Fragerunde zum Praktikumsknigge.
«Du hast vormittags während des Praktikums einen Arzttermin, was tust du?»
Meine Schäfchen gucken mich verdattert an. Was ist das für Frage? Arzt gehen, was sonst! Ich weise darauf hin, dass sie sich vormittags keine Termine geben lassen sollen.
Hassan versteht die Welt nicht mehr: «Vallah, kann ich doch nicht dafür, wann Arzt gibt mir Arzttermin.»
Meine Schüler lieben Arzttermine, es gibt nichts Schöneres für sie; bei jedem allerkleinsten Aua rennen sie gleich zum Arzt ihres Vertrauens. (Noch besser sind nur noch Vorladungen bei der Polizei oder bei Gericht.)
So, nächste Frage: «Du sollst etwas machen, das nichts mit deiner eigentlichen Arbeit zu tun hat, zum Beispiel Kaffee kochen oder kehren oder Frühstück einkaufen. Machst du das?»
«Niemals!» Nesrin schreit laut auf. «Bin ich Knecht? Soll ich Klo putzen und einkaufen? Niemals!»
«Wer macht das denn bei euch zu Hause?», frage ich heimtückisch.
«Meine Mutter!»
Prinzesschen Nesrin braucht sich ihre zarten Fingerchen also nicht schmutzig zu machen.
«Aha, die ist also Knecht», stelle ich fest.
«Wollen Sie meine Mutter beleidigen? Abo, voll gemein! Sie beleidigt meine Mutter, was beleidigen Sie meine Mutter? Lassen Sie meine Mutter in Ruhe, geht Sie gar nichts an, was meine Mutter macht, ich sag mein Vater, dass Sie gesagt haben, meine Mutter ist Knecht, vallah, er kommt und sagt Sie Meinung …»
Nesrin redet sich warm, die anderen schreien dazwischen, ich schiele auf die Uhr und kritzele ein bisschen in mein Heft, das wirkt amtlich und sieht nach Sanktionen aus. Schließlich hat Nesrin sich wieder eingekriegt, und ich kann meinen Sermon zum Kaffeekochen loslassen.
Dann fragt Fuat: «Muss ich immer sieben Stunden da im Laden bleiben?» Er hat sich eine Stelle bei einem Discounter gesucht und darauf absolut keinen
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