Ghetto-Oma: Ein Leben mit dem Rücken zur Tafel
auf dem Tisch, Gülten und Necla kommunizieren schon die ganze Zeit unauffällig über den Raum hinweg miteinander (aber nicht unauffällig genug), Turgut singt halblaut in der letzten Reihe ein türkisches Lied vor sich hin und ist nur kurz ruhig, wenn ich ihn wild angucke, Sam hat Kopfschmerzen, und Leila ist gerade erst gekommen («Ich war Arzt») und muss sich noch «mentalistisch» berappeln, ehe sie mitarbeiten kann. Dabei ist die Stunde fast um.
Viel geschafft haben wir nicht. Es mussten noch lebenswichtige Fragen zum Volleyballturnier am Nachmittag geklärt werden. Bestimmt werden wir wieder Vorletzter oder Letzter!
So, jetzt aber Bio. Endlich!
Im Moment geht es um Bakterien. Bekanntlich vermehren die sich unter günstigen Verhältnissen wie verrückt – alle zwanzig Minuten kann sich so ein kleines Viech durch Zellteilung verdoppeln. Ich zeige eine Petrischale, in der eine Bakterienkolonie mit bloßem Auge sichtbar ist.
«Hä?»
Emre und einige andere gucken mich ziemlich intelligenzfrei an.
«Wieso sieht man die kleinen Dinger auf einmal?», fragt Emre.
«Ganz einfach», sage ich, «rechne mal aus, wie viele Bakterien aus einer Bakterie werden, in … na, etwa einer Stunde.»
«Ist doch ganz leicht: acht», ruft Emre.
«Wie jetzt?» Ömür furcht die Stirn und rechnet schriftlich. «Genau, acht», murmelt er dann.
«Richtig», sage ich. «Und nach zwei Stunden?»
«Sechzehn», meint Ömür.
Alle sind sehr zufrieden mit der Antwort.
«Stimmt nicht», sage ich.
Dann rechnen wir an der Tafel, und ich mache kleine Zeichnungen. Und wir rechnen im Kopf, und wir rechnen mit dem Taschenrechner, und ich mache noch eine Zeichnung, nämlich lauter Bakterien. Und wir zählen und rechnen und zählen, und es dauert und dauert, aber am Ende haben wir es raus: Es sind vierundsechzig! Und die, die mitgerechnet haben, wissen auch, wieso.
Wir rechnen noch ein bisschen weiter; macht Spaß auf einmal – Kopf aus, Taschenrechner an, voll easy.
Drei Stunden … vier … Die Zahlen werden sehr schnell sehr groß.
«Vallah, voll viele», staunt Emre. «Warum sieht man die nicht? Muss doch alles voll fett mit Bakterien sein, die ganze Erde, alles hier!» Er blickt sich suchend nach einem sichtbaren Bakterienteppich im Raum um.
Gülten weiß die Lösung: «Du Spast», sagt sie, «ist doch voll einfach. Die sind ja auch überall! Aber die sind alle in so … so … wie … äh … wie soll ich sagen … in so was wie Gelee.»
«Was Gelee? Wo Gelee?» Ömür guckt auf den Fußboden.
«Nicht hier!» Gülten wird ärgerlich. «Ist über uns!»
Automatisch gucken alle zur Decke. Ich auch. Von Gelee keine Spur, zum Glück.
«Viel höher», sagt Gülten. «Ganz da oben … wie heißt das noch mal?»
«Atmosphäre?», fragt Mustafa.
«Genau, Atmosphäre», wiederholt Gülten zufrieden.
«Wie hoch ist das, Atmosphäre?», fragt Ömur.
«So 33000 Kilometer hoch», antwortet Mustafa.
«Ach, und da ist Gelee mit Bakterien?» Wenigstens Emre klingt ein bisschen ungläubig.
«Ja, das ist so ein Schutzteil oder so», sagt Gülten.
Alle gucken mich erwartungsvoll an.
Ich schüttele mein weises Haupt und … da klingelt es. Allah sei Dank!
Nächste Woche muss ich das aber schleunigst großräumig aufarbeiten.
Wenn ich nur wüsste, wo ich da anfangen soll?
Zu (ver) lässig
Klassenfahrt – mein Unwort des letzten Jahres. Ach, was sag ich, der letzten zweieinhalb Jahre! Immer wieder beschwören uns unsere Schüler, dass wir nun aber endlich eine machen müssen. Wenn nicht dieses, dann aber spätestens nächstes Jahr.
«Solange ihr nicht mal ein bisschen zuverlässig seid, könnt ihr das knicken», lautet eins der Mantras von Karl und mir. «Ihr kommt und geht, wann ihr wollt. Ihr haltet euch an keine Regeln und an keine Absprachen. Und da sollen wir mit euch wegfahren? Möglichst noch ins Ausland?»
«Jaaaa, Türkei!»
«Nein, Spanien!»
«Italien, auf jeden!»
«Aber nur mit Flieger!»
«Kommt bitte morgen pünktlich zum Wandertag», sagte Karl gestern, und er schrieb genau an die Tafel, wo und wann wir uns treffen, wie viel der Eintritt kostet und welche Fahrkarten benötigt werden. «Abmarsch um neun und nicht um fünf nach neun!»
Wir wollen auf eine große Messe, wo es richtig viel zu sehen gibt. Eine schöne Gelegenheit, um zu zeigen, ob nun endlich die Zeit der finalen Zuverlässigkeit angebrochen ist.
Zehn vor neun stehen Karl und ich noch ganz alleine auf dem Schulhof und warten.
Ein
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