Ghetto-Oma: Ein Leben mit dem Rücken zur Tafel
gibt es Geräusche auf der Treppe, aber ziemlich verhaltene. Kein Stuhl wird runtergeworfen, niemand kreischt, keiner klopft an fremde Klassentüren.
Hm.
Als es wieder ruhig ist, laufe ich rauf. Ich muss ja noch die Klasse abschließen – und ich bin gespannt wie ein Flitzebogen. Wenn es im Raum schlimm aussieht, werde ich die Stühle nicht hochstellen, sondern dem Putzkommando eine Message an die Tafel schreiben: «Diesen Raum bitte nicht sauber machen!»
Ich öffne ganz vorsichtig die Tür. Alle Stühle stehen oben, die Fenster sind geschlossen, die Tafel ist gewischt, der Boden gekehrt.
Nein, ich mache mir keine Hoffnung, dass das der pädagogische Durchbruch sein könnte. In keiner Weise! Aber vor einem halben Jahr wären die einfach alle abgehauen, ohne aufzuräumen. Ich schwör’s!
Soll ich mich ein bisschen freuen?
Cross over
Ich habe Volkan getroffen, einen ehemaligen Schüler, über den ich an der Kasse im sonntags geöffneten Edeka stolperte. Das heißt, er ist mehr über mich gestolpert …«Hallo, Frl. Krise!»
«???»
Sämtliche Schülerdateien in meinem Kopf öffneten sich blitzartig, aber der passende Namen sprang mir nicht entgegen. Also überspielte ich das Manko gekonnt und schlug in die Pranke ein, die mir entgegengereckt wurde.
«Meine Güte, dich habe ich ja kaum noch wiedererkannt», sagte ich freudestrahlend.
Und das war nicht gelogen.
«Ja? Wissen Sie noch? Ich war Frau Herz Klasse», sagte der Riese, und da fiel es mir wie Schuppen von den Augen.
«Volkan!»
Der saß doch immer in der Pause auf der Treppe mit Wiehießdenndernochmal? und ließ einen nicht durch, wenn man eilig hochwollte.
«Ich weiß, ich bin voll verändert», sagte Volkan selbstzufrieden. «Ich bin übertrieben breit geworden.» Er klopft sich auf die Brust.
«Du machst bestimmt Wachschutz», vermutete ich. Dazu gehörte nicht besonders viel Phantasie, viele meiner Ehemaligen sind in diesem dubiosen Metier beschäftigt.
«Genau, ich bin Security.» Erfreut über meinen Treffer, haute er mir vorsichtig auf die Schulter.
«Und Sie, Frl. Krise, immer noch Lehrerin?» Er guckte mich fast mitleidig an.
«Na klar! Was sonst? Beim Wachschutz will mich ja keiner.»
«Hahaha! Sind Sie immer noch daahaaa?» Er wies mit dem Kopf nach hinten, in Richtung Schule.
Ich nickte. Volkan guckte ungläubig.
Komisch, ehemalige Schüler scheinen immer zu glauben, dass das Leben in einer Schule aufhört zu existieren, bloß weil sie abgehen.
«Hast du noch Kontakt zu den anderen, Volkan?»
«Nee, eigentlich nicht. Farruk sehe ich manchmal. Der hat schon Kind!»
«Nein!»
«Doch. Ich bin auch verlobt!»
«Mit wem?»
Volkan grinste breit. «Sie ist draußen. Warten Sie. Ich zeige Ihnen.»
Vor dem Laden stand ein weibliches Wesen mit einem Kampfhund an der Leine. Das Tierchen war wie das Herrchen übertrieben breit und schnüffelte sofort an mir herum.
Ich schreckte ein bisschen zurück, zum Glück trug es wenigstens einen Maulkorb. Die blondierte Maid nahm ich erst auf den zweiten Blick richtig wahr.
«Jacqueline!»
Jacqueline war damals in meiner Klasse, Volkan in unserer Parallelklasse. An Jacqueline erinnerte ich mich auch deshalb so besonders gut, weil sie eine eineiige Zwillingsschwester hatte, Nadine.
«Ihr zwei seid verlobt?»
Beide nickten stolz. Die kleine dünne Jacqueline hatte sich kaum verändert, sah man mal von den fast fehlenden Augenbrauen und der braunen Kriegsbemalung ab.
«Und das ist euer Baby?» Ich zeigte vorsichtig auf das wilde Tier. Keineswegs wollte ich es reizen, Maulkorb hin oder her.
«Leider nicht. Das ist Nadines Baby», erklärte Jacqueline und tätschelte liebevoll den viereckigen Kopf des Viehs. «Volkan will keinen Hund. Ich leih mir den hier ab und zu mal aus. Was, Tyson?»
Tyson hatte Ohren wie «Ferkel» aus Pu der Bär …
Sie ist arbeitssuchend, erzählte Jacqueline, gelernt hat sie nichts. Nadine hat auch ihre Ausbildung abgebrochen und stattdessen geheiratet. Sie ist schwanger, sechster Monat.
Ihre Mutter? Kein Kontakt mehr. Aber Volkans Familie ist voll nett. Sein Vater ist vor drei Jahren gestorben. Herz.
Was der wohl zu einer deutschen Schwiegertochter gesagt hätte?, fragte ich mich im Stillen.
Jacqueline wurde dann ganz wehmütig: «Frl. Krise, das war echt die schönste Zeit in der Schule, damals, mit unserer Klasse … Wissen Sie noch?»
Ich nickte.
Immer wieder höre ich diesen Satz. Kommt wirklich nichts Schöneres mehr nach der Schule? Ein
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