Ghetto-Oma: Ein Leben mit dem Rücken zur Tafel
den Hals – gut, dass ich so stabil bin.
«Ich wollte Sie mal besuchen», sagt er. «Ist ja schon sooo lange her … Ich wundere mich, Sie haben mich ja gleich erkannt.»
Jack und John, wie könnte ich die wohl vergessen!
Zwei Brüder aus schwierigen familiären Verhältnissen. Sie waren ganz passabel in der Schule, jedenfalls bis zum neunten Schuljahr. Ihr tadelloses Benehmen und ihre gepflegte Ausdrucksweise waren außergewöhnlich … Aber dann passierten schreckliche Dinge, und beide verließen die Schule ohne Abschluss und Perspektive, dafür mit hoffnungsvollen Ansätzen für eine steile kriminelle Karriere.
«John und ich, wir machen beide gerade eine Ausbildung», sagt Jack. «Hat ja ein bisschen gedauert, bis wir kapierten, dass unser Leben in eine Schieflage geraten war.»
Er drückt sich immer noch so gewählt aus!
«Wir sind jetzt fast fertig und werden auch von unseren Betrieben übernommen!»
Ich rechne innerlich: Dreiundzwanzig Jahre muss er alt sein. So alt wie Britta, die ich neulich traf und die in dieselbe Klasse wie Jack und John ging.
«Wir haben noch oft von Ihnen gesprochen, Frl. Krise», sagt er und grinst mich an. «Und ich dachte, ich muss mich mal bei Ihnen melden, weil doch noch was aus uns geworden bin!»
Als ich wieder vor meinen Büchern sitze, kann ich mich kaum konzentrieren.
Ich bin schwer beeindruckt. Jack und John! Damals hätte ich keinen Pfifferling mehr für sie gegeben! John knackte Autos, Jack versuchte es mit Drogenhandel – und nun sind sie brave Fliesenleger.
Alles kann sich zum Guten wenden, mit dem Erwachsenwerden kann die Einsicht kommen; Britta hat’s ja auch geschafft. Mein kleines Atomkraftwerk hat sich wieder beruhigt.
Nesrin, wenn du morgen wieder so zickst, sage ich keinen Ton!
Ich schwör’s!
Ich warte einfach acht Jahre ab …
Geduld, Geduld!
Was werden meine Schüler? Ärzte, Alkoholiker, Anwälte, Auswanderer, Animateure oder Abfallberater? Ach, diese Frage ist nicht leicht zu beantworten.
Gelegentlich werde ich auf Klassentreffen eingeladen und staune im ersten Moment, wie fremd mir diese Erwachsenen sind, die einmal meine Schüler waren. Soll ich die jetzt siezen? Nein. Man winkt ab, wir duzen uns. Und trotzdem! Erst im Laufe des Abends erkenne ich in den fremden Menschen meine alten Schüler wieder: Alina labert noch immer ohne Punkt und Komma, und Tom sitzt wie einst verträumt neben dem schweigenden Murat. Etwas von der früheren Vertrautheit kommt langsam wieder auf.
Ich staune aber auch darüber, dass viele, sehr viele, sich ganz anders entwickelt haben, als von mir prognostiziert. Der träge Alper präsentiert sich als cooler Freeclimber, die mathematisch hochbegabte Marie ist mehrfache Mutter und jobbt in einer Bäckerei, und Aggro-Paul macht einen auf seriös mit seinem Fachhandel für Weihnachtsdekoration. Wer als ehemaliger Schüler zum Klassentreffen erscheint, weist normalerweise irgendetwas vor: Auto, Beruf, Haus, Ehepartner, Kind. Von den anderen, die genauso wie damals unentschuldigt fehlen, weiß man nichts oder wenig.
Manchmal gibt es auch nur schlechte Nachrichten: Die Klasse, die ich vor einigen Jahren aus meiner jetzigen Schule, der großstädtischen Julie-Manet-Schule, entließ, traf sich genau ein Jahr später wieder, und die Bilanz war bestürzend: Keiner hatte eine Lehrstelle. Sie waren alle in der Probezeit entlassen worden. Einige befanden sich in berufsvorbereitenden Maßnahmen, drei sollten getestet werden, ob sie überhaupt ausbildungsfähig seien. Vier Jungen waren bereits ihren Führerschein wieder los. Nick hatte ohne Führerschein mit dem Auto seiner Mutter einen schweren Unfall verursacht. Cindys Schwangerschaft endete mit einer Fehlgeburt, und Evis Verlobter war ohne Angabe von Gründen entschwunden. «Frl. Krise, wir sind eine Loserklasse», stellte Kerim selbstkritisch fest. Alle benahmen sich so schlecht im Lokal, dass ich richtig froh war, als ich endlich gehen konnte.
Jetzt erst, meist über Facebook, erreichen mich lauter gute Botschaften. Sie sind doch noch erwachsen geworden und haben ihren Weg gemacht! Fast alle!
Eigentlich sollte mich das beruhigen. Sie kriegen die Kurve. Es dauert nur ein bisschen länger.
Bakterielle Berechnung
Dritte Stunde Biologie, meine Klasse, aber nur die Hälfte der Schüler – ein kleiner Kurs, acht Jungen und drei Mädchen. Trotzdem, die Noten auf den Halbjahreszeugnissen sind erschreckend schlecht.
Kein Wunder. Erkan liegt wie eh und je mit dem Kopf
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