Ghostman: Thriller (German Edition)
einem schrecklichen Ausdruck nackter Qual verzerrt. Ich sah ein Blutrinnsal, das an ihrem Haaransatz entlang und über die Konturen ihres Gesichts bis zum Kinn hinunterlief. Ich hatte Mitleid mit ihr. Ich wehrte mich dagegen, doch irgendwie hatte ich plötzlich ein schlechtes Gewissen. Ich schaute weg und versuchte, ihre Schreie auszublenden, aber es ging nicht. Ich konnte mich nicht konzentrieren. Mir war, als schreie sie mich unmittelbar an, als rufe sie meinen Namen. Ich rief Mancini zu, er solle mir die Impfpistole herüberreichen, und schoss ihr eine Ladung Beruhigungsmittel in den Hals. Zehn Sekunden später schlief sie tief und fest, aber das änderte nichts.
Ich fühlte mich schuldig, ja, mehr als das: Ich fühlte mich mächtig.
ACHTUNDVIERZIG
Atlantic City
Ich fragte mich, wie lange es dauern würde, bis jemand die Leiche entdeckte. Der Gestank war jetzt schon grauenhaft, aber einen Geruch, der aus einem Haus wie diesem kam, würde man vielleicht nicht beachten. Der Makler, der Ribbons die Adresse verkauft hatte, könnte ihn bei einem Routinebesuch finden, doch bis dahin konnten Wochen vergehen. Bis dahin wäre das weiche Gewebe des Körpers verwest und das Gesicht nicht mehr zu erkennen.
Ich dachte noch einen Augenblick über Ribbons’ letzte Bitte nach. Alles, was er sich auf der Welt noch gewünscht hatte, war ein letzter Schuss. Das wollte ich gern verachtenswert finden, aber ich konnte es nicht. Ich habe auch eine Sucht, und die ist kein bisschen weniger selbstzerstörerisch.
Ich blieb bei Ribbons’ gestohlenem Mazda MX -5 stehen. Als ich die Tür öffnete, verschlug mir der Gestank den Atem. Es roch nach Fischblut und faulem Fleisch. Ich brauchte einen Augenblick, um darüber hinwegzukommen, und dann holte ich tief Luft. Auf dem Sitz klebten Blut und Gewebeteile, doch nach zwei Tagen in der Sommersonne war alles schwarz eingetrocknet. Ich sah, wo das aufgesprühte Gerinnungsmittel gewirkt hatte und wo nicht. Ich schlug die Wagentür zu und ging weiter zu Lakes’ Bentley. Ich konnte nicht hundertprozentig sicher sein, dass der Wagen nicht verwanzt war, aber er war besser als der Mazda. Ich warf die blaue Kevlartasche auf den Beifahrersitz und stieg ein.
Natürlich musste ich das Geld irgendwo bunkern, bevor ich etwas anderes tat. Ich hatte gedroht, es an einem Ort zu deponieren, der die Polizei auf die Spur des Wolfs bringen würde, aber ich hatte nicht vor, das zu tun. Es war nicht nötig. Der Wolf würde mir meinen Bluff so oder so abkaufen. Jetzt, da ich das Geld hatte, riskierte ich in jeder Minute, die ich damit verbrachte, dass es explodierte. Im Geiste erkundete ich den Stadtplan, während ich fuhr. Ich nahm die Küstenstraße, die ins Stadtzentrum zurückführte, malte mir verschiedene Verstecke aus und wog Pro und Kontra gegeneinander ab.
Ich war fast am Boardwalk, als der Himmel zu grollen begann und sich rasch verfinsterte. Ein Unwetter zog auf. Schon wetterleuchteten Gewitterwolken über dem Meer. Die Luftfeuchtigkeit kondensierte zu saurem Regen. Eine Minute später klatschten dicke Tropfen auf die Frontscheibe, und dann regnete es wie aus Eimern. Ich schaute zu dem wütenden Himmel hinauf und schaltete die Scheibenwischer ein.
Der Ort, für den ich mich entschied, war ein verlassenes Stück Strand in der Nähe des Absecon Inlet. Es war zu steinig dort, um zu irgendetwas gut zu sein– eine Mischung zwischen Strand und Steilküste. In einer scharfen Kurve schwenkte die Straße weg von den tödlichen Klippen und der Brandung.
Es hatte mehrere Vorteile, das Geld an solch einer Stelle zu verstecken. Dieser Strand lag so weit abseits der ausgetretenen Pfade, dass hier in den nächsten Stunden niemand einfach vorbeikommen und die blaue Tasche zwischen den Steinen finden würde. Zweitens setzte jetzt die Ebbe ein. So bestand nicht die Gefahr, dass das Geld zufällig hinausgeschwemmt wurde, nicht einmal bei starker Brandung. Und drittens, wenn die Sprengsätze losgehen sollten, wäre es mir lieber, sie täten es hier, wo niemand zu Schaden kommen konnte. Ich hatte nicht vor, Sprengstoff da zu verstecken, wo Kinder ihn finden konnten.
Kaum war ich ausgestiegen, war ich nass bis auf die Knochen. Ich warf mir die blaue Tasche über die Schulter, zog ein Handy aus der Tasche und schickte eine SMS an eine von Marcus’ Nummern.
Kein Glück gehabt, lautete sie.
Ich nahm Akku und SIM -Karte aus dem Telefon und warf alles über die Sanddünen, hinter ein Schild am Rand des zweispurigen
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