Ghostwalker 01 - Ghostwalker 01
desinfizieren, aber das musste warten, bis er hier fertig war. Ein Verband würde fürs Erste reichen. Gerade als er mit einer Klemme das Ende der Mullbinde feststeckte, ertönte die Türklingel. Henry sah abrupt auf. Er erwartete niemanden, und nur eine Handvoll Leute wusste, wo er lebte. Unschlüssig, ob er das Klingeln ignorieren sollte, ging er zur Gegensprechanlage, die er sich im Kellerraum hatte installieren lassen. Auf dem kleinen Display zeigte die Kamera eine bekannte Gestalt, die sich gerade wieder zum Klingelknopf beugte. „Oh verdammt.“
Isabel blickte zu der kleinen Kamera hoch, die direkt auf sie gerichtet war. Ihr Vater musste da sein, schließlich stand sein Wagen vor der Tür. Sie verzog den Mund. Wahrscheinlich war er wieder in seine Arbeit vertieft und hörte die Klingel nicht. Natürlich hätte sie sich anmelden müssen, aber sie hatte verhindern wollen, dass er sie abwies. Es waren Schulferien, und sie hielt es einfach nicht mehr aus in Los Angeles. Zu laut, zu versmogt, zu viele Menschen. Also war sie bei der ersten Gelegenheit in die Einöde zu ihrem Vater geflohen. Ihre Schultern sanken herab, und sie lehnte sich mit dem Rücken gegen die Hauswand. Er musste einfach da sein, sonst wusste sie nicht, was sie machen sollte.
Als sie hörte, wie mehrere Riegel zurückgeschoben wurden, atmete sie erleichtert auf. Gott sei Dank, er war da. Isabel richtete sich auf und nahm den Rucksack wieder in die Hand, den sie auf dem Holzboden abgestellt hatte. Die Tür schwang auf, und ihr Vater trat hinaus. Er sah aus wie immer, wenn man von seinem geröteten, schweißbedeckten Gesicht absah. Und wie immer löste sein Anblick die unterschiedlichsten Gefühle in ihr aus, Liebe und Schmerz, aber auch Ablehnung und Wut. Wenn er nicht so von seiner Arbeit besessen gewesen wäre, hätte ihre Mutter sich vielleicht nicht von ihm scheiden lassen. Sie hielt still, als Henry sie umarmte und einen Kuss auf ihre Wange drückte.
„Hallo, mein Schatz. Was tust du denn hier?“
Isabel bezwang den Impuls, über ihre nun feuchte Wange zu streichen, und ballte stattdessen die Hände zu Fäusten, während sie einen Schritt zurücktrat. „Hallo, Dad. Ich habe Ferien und dachte, ich besuche dich mal.“
Henry sah sich suchend um. „Wo ist deine Mutter?“
„In L.A., sie muss arbeiten.“
Die buschigen Brauen senkten sich über seine Augen, eine Falte erschien auf seiner Stirn. „Wie bist du dann hierhergekommen?“
„Kann ich nicht erst mal reinkommen? Ich bin ziemlich durstig.“
„Lenk nicht ab, junge Dame! Also?“
Isabel unterdrückte gerade noch einen tiefen Seufzer. „Mit dem Bus.“
Henry strich mit einer Bewegung, die sie nur zu gut kannte, über seine graubraunen Haare. „Hier hält im Umkreis von fünfzehn Meilen kein Bus.“
„Von der Stadt aus bin ich per Anhalter gefahren und dann von der Straße zu Fuß hierher.“
„Herrgott, Kind, du weißt doch, wie gefährlich so etwas ist! Ich hätte erwartet, dass du vernünftiger bist.“ Ihr Vater fuchtelte mit den Armen in der Luft. „Dir hätte sonst was passieren können, und wir hätten es vielleicht nie erfahren!“
„Mir ist aber nichts passiert.“ Die trotzige Bemerkung schlüpfte ihr automatisch heraus, denn natürlich war ihr klar, dass ihre Aktion nicht ganz ungefährlich gewesen war. Aber sie hatte einfach nur noch daran denken können wegzukommen, alles andere war zweitrangig gewesen. Bevor ihr Vater sich weiter aufregen konnte, legte sie beschwichtigend ihre Hand auf seinen Arm. „Der Postbote hat mich mitgenommen, ich wäre nie bei einem Fremden mitgefahren.“
Etwas besänftigt zog Henry seinen Arm zurück. „Dann ist es ja gut. Aber es erklärt immer noch nicht, warum du mich nicht vorher angerufen hast. Dann hätte ich dir sagen können, dass es gerade kein guter Zeitpunkt ist und …“
Isabel unterbrach ihn. „Genau deshalb habe ich nicht angerufen.“ Flehentlich sah sie ihn an. „Bitte, Dad, ich brauche nach dem ganzen Stress in der Schule eine Abwechslung. Lass mich hierbleiben, ich werde dir auch nicht im Weg sein.“ Als ihr Vater nur ein nichtssagendes Grunzen von sich gab, versuchte sie es mit einem Lächeln. „Wenn du willst, kann ich dir auch ein wenig helfen.“
Wie erwartet zog Henry ein entsetztes Gesicht. „Nein!“ Ruhiger fuhr er fort. „Nein danke, Schatz. Das ist doch uninteressant für dich.“ Er stieß einen tiefen Seufzer aus. „Also gut, du darfst bleiben. Aber beschwer dich hinterher nicht,
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