Ghostwalker 04. Fluch der Wahrheit
gebunden, und die Haltung des Mannes wirkte aufrecht. Sein Körper war schlank und durchtrainiert, nichts wies darauf hin, dass sie einen Alkoholiker vor sich hatten.
Als Tenaya sich umdrehte und sie auf sich zukommen sah, weiteten sich seine Augen. Zuerst starrte er Caitlin an, bevor sein Blick zu Torik wanderte. Der Schlauch fiel ihm aus der Hand, und sein Gesichtsausdruck war das Herzzerreißendste, was Caitlin je gesehen hatte. Unglauben, unbändige Freude und grenzenloses Leid wechselten sich innerhalb von Sekundenbruchteilen ab. Beinahe gierig streiften seine Augen jeden Zentimeter von Toriks Körper, so als versuchte er, den Mann, der vor ihm stand, mit dem Kind von damals in Einklang zu bringen. Caitlin stieß einen lautlosen Seufzer aus, als sie Toriks steinerne Miene sah. Es war offensichtlich, dass er es seinem Vater nicht leicht machen würde.
Schließlich hielt sie das Schweigen nicht mehr aus und trat vor. »Hallo, ich bin Caitlin Walker. Erinnern Sie sich an mich?«
Verwirrt schoben sich die Augenbrauen des vielleicht sechzigjährigen Indianers zusammen. »Sollte ich?« Er schnitt eine Grimasse. »Tut mir leid, ich wollte nicht unhöflich sein, Sie haben mich nur überrascht. Ich kann mich nicht erinnern, Sie jemals getroffen zu haben. Sind Sie eine … Freundin von Torik?« Er sprach den Namen seines Sohnes so aus, dass er beinahe wie Tarek klang. Jetzt wusste sie auch, wie sie auf den Namen für ihren Helden gekommen war, Tenaya musste ihn irgendwann erwähnt haben.
»Eher eine gute Bekannte.« Sie konnte spüren, wie sich Torik hinter ihr anspannte.
»Seid ihr jetzt endlich fertig mit den Höflichkeiten? Wir sind nur aus einem Grund hier: um herauszufinden, warum du die Gruppe verraten hast.«
Entsetzt sah Tenaya ihn an. »Ich würde nie … « Er kniff die Augen zusammen und betrachtete Caitlin genauer. »Woher kennen Sie mich?«
»Wir saßen vor etwa zwei Jahren in der Kneipe nebeneinander. Sie haben mir erzählt, es wäre der Tag gewesen, an dem Sie vor zweiundvierzig Jahren Ihre Frau kennenlernten.«
Tenaya wurde unter seiner natürlichen Bräune blass und schwankte ein wenig. Bevor Caitlin ihn stützen konnte, fing er sich wieder. In diesem kurzen Moment schien er um Jahre gealtert zu sein. »Ich glaube, es ist besser, wenn wir zu mir gehen. Dort können wir in Ruhe reden.«
Tenayas Haus war klein, aber sauber und ordentlich. Neugierig sah Caitlin sich um, während Torik den Blick keinen Moment von seinem Vater abwandte, als befürchtete er, Tenaya könnte in einem unbeobachteten Augenblick fliehen. Dabei war sie ziemlich sicher, dass dieser auf gar keinen Fall gehen würde, solange sein Sohn da war.
»Setzt euch. Möchtet ihr etwas zu trinken?«
Torik verschränkte die Arme über der Brust und blieb demonstrativ an der Wand stehen. Mit einem lautlosen Seufzer nahm Caitlin in einem der Sessel Platz. »Nein, danke, wir waren gerade erst im Café.«
»Rede endlich!«
Tenaya zuckte bei Toriks Ausbruch zusammen. »Was möchtet ihr wissen?«
»Warum hast du uns verraten? Du musst doch wissen, was passieren kann, wenn die Menschen von uns erfahren. Trotzdem hast du Caitlin von uns erzählt.«
Unsicher sah Tenaya erst Caitlin, dann Torik an. »Weiß sie … ?«
Wut flammte in Toriks Augen auf. »Dank dir, ja! Und noch Tausende anderer Leute.«
Diesmal zog Caitlin den Kopf ein. »Es ist nicht seine Schuld, dass ich ein Buch darüber geschrieben habe.«
Tenaya sank schwer in einen Sessel. »Was für ein Buch?«
»Einen Fantasy-Liebesroman über Berglöwengestaltwandler, die in der Nähe des Yosemite leben.«
Gequält schloss Tenaya die Augen und ließ den Hinterkopf an die Lehne sinken. »Verdammt!«
»Ganz genau! Was hast du dir dabei gedacht, einer Fremden so etwas zu erzählen?« Toriks Stimme war gefährlich leise.
Zögernd hoben sich Tenayas Lider. »Da ich mich nicht daran erinnern kann, es überhaupt getan zu haben, kann ich dir das leider nicht sagen. Ich war vermutlich betrunken.«
»Hast du deshalb die Gruppe verlassen? Um zu einem Säufer zu werden?«
Caitlin fühlte sich zwischen Verständnis für Toriks Ärger und Mitleid für Tenaya hin- und hergerissen. »Torik.«
»Was? Er ist damals einfach heimlich abgehauen und hat uns nicht mal eine Nachricht hinterlassen. Aber du hast recht, das interessiert mich auch gar nicht mehr.«
Ihr Herz zog sich bei dieser offensichtlichen Lüge zusammen.
Tenaya schien das ebenfalls wahrzunehmen, denn er setzte sich gerader hin und
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