Ghostwalker - Raven, M: Ghostwalker
Nacht war, wäre Isabel nie darauf gekommen.
Mit einer Hand an ihrem Arm führte Lee sie um eine Ecke und in einen weiteren Gang, der allerdings deutlich kürzer war und an dessen Ende sich eine Fahrstuhltür befand. Isabel wurde immer langsamer, bis sie schließlich ganz stehen blieb. Auf keinen Fall wollte sie mit ihrem Entführer auf so engem Raum eingepfercht sein.
Der Verbrecher blickte überlegen lächelnd auf sie herunter. »Hast du Angst vor Fahrstühlen?« In seiner Stimme war eine Spur von Ungeduld zu hören.
Isabel verschränkte die Arme vor ihrem Oberkörper, damit er das Zittern nicht sah. »Nein.«
Er drückte auf den Knopf und die Tür glitt auf. »Dann komm. Irgendwann möchte ich heute auch noch ins Bett.« Als er ihren entsetzten Blick sah, schüttelte er seufzend den Kopf. »Nicht mit dir, natürlich.«
Isabel biss auf ihre Lippe. Ihr blieb keine Wahl, denn er konnte sie jederzeit mit Gewalt dazu zwingen, deshalb betrat sie mit hoch erhobenem Kopf den Lift. Fünf Etagenknöpfe waren untereinander angeordnet, der oberste leuchtete. Lee steckte einen Schlüssel in das Loch daneben, drückte auf den Knopf für das Untergeschoss und blickte dann zu der leuchtenden Digitalanzeige über der Tür, als sich der Fahrstuhl in Bewegung setzte.
Ihr Mut sank. Wenn sie einen Schlüssel brauchte, um überhaupt die Etage verlassen zu können, dann war sie wirklich eingeschlossen, selbst wenn sie irgendwie aus ihrem Raum herauskam. Sie musste herausfinden, ob es irgendwo ein Treppenhaus gab. Ihr Magen krampfte sich zusammen, als die Kabine mit einem Ruck im untersten Stockwerk anhielt. Auch hier wartete ein langer Gang auf sie. Der einzige Unterschied war die nicht ganz so helle Beleuchtung und der Beton, der den Boden statt Fliesen bedeckte.
Lee lief zielgerichtet vor ihr. Es wirkte auf sie, als würde er sich oft in diesem Bereich aufhalten. Hier waren die Türen nummeriert. Dadurch wusste sie allerdings immer noch nicht, was hinter ihnen lag. Das Gebäude musste irrsinnig groß sein, nichts, das man irgendwie übersehen konnte. Keira, komm bitte schnell! Während sie den Gang entlanggingen, spürte Isabel, wie der Druck in ihrem Kopf zunahm. Mit jedem Schritt pochten ihre Schläfen stärker, wurde der Schmerz unerträglicher. Isabel rieb über ihre Stirn. Der Verbrecher durfte ihre Schwäche nicht bemerken, deshalb bewegte sie sich weiter, obwohl sie am liebsten umgekehrt und davongelaufen wäre.
Nach einer weiteren Abzweigung kamen sie schließlich an eine große Stahltür, von der aus große Riegel in der Wand verschwanden. Seitlich daneben befand sich ein kleiner Kasten mit einem Ziffernfeld und einer Tastatur. Auf diesen steuerte ihr Entführer zielstrebig zu, während Isabel die Gelegenheit nutzte, sich für einen Moment an die Wand zu lehnen. Ihre Beine fühlten sich an wie aus Gummi, ihr Magen revoltierte. Am schlimmsten war der alles umfassende Schmerz in ihrem Schädel. Das Licht schmerzte in ihren Augen, das leise Piepsen, als Lee die Tasten drückte, drang wie ein Eispickel in ihr Gehirn. Gott, so schlecht hatte sie sich nicht mehr gefühlt, seit …
Sie erstarrte. Zuletzt hatte sie solche Kopfschmerzen gehabt, als Henry Stammheimer Bowen in seinem Keller folterte! Damals hatte sie noch nicht gewusst, dass es so etwas wie Wandler überhaupt gab, doch inzwischen hatte sie viel dazugelernt. Normalerweise sollte sie in der Lage sein, den Schmerz zu unterdrücken und stattdessen einzelne Gefühle wahrzunehmen. Jedenfalls war ihr das in den letzten Monaten immer öfter gelungen. Selbst bei Coyle und Keira hatte sie keine Probleme gehabt, sich darauf zu konzentrieren. Also musste entweder etwas hinter dieser Tür sein, das dermaßen starke Schmerzen hatte, dass sie nicht dagegen ankam, oder mehrere Katzen.
Erneut zog sich ihr Magen zusammen, diesmal aus Angst, was sie dort vorfinden würde. Rasch richtete sie sich auf, als der Verbrecher die Tür aufzog und sich zu ihr umdrehte. Wenn er den Schweiß sah, der über ihr Gesicht lief, gab er es nicht zu erkennen. Stattdessen lächelte er sie zufrieden an.
»Hier ist mein Reich, auf das ich sehr stolz bin.«
Zögernd trat Isabel nach ihm durch die Tür und beobachtete mit wachsender Panik, wie er sie hinter ihnen verriegelte. Sie war gefangen! Sicher würde ihm nicht mehr lange entgehen, wie schlecht es ihr ging, und er würde sich fragen, woran das lag. Vielleicht konnte sie es auf ihre Angst schieben. Normalerweise machte Furcht sie wütend, doch
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