Gib den Jungs zwei Küsse: Die letzten Wünsche einer Mutter
Aufgabe allein darin bestand, mich um Kates Habe zu kümmern, von allem anderen ganz zu schweigen. Der Raum war voll von ihren persönlichen Dingen. Ich konnte die Sachen nicht als Ganzes an einen Wohlfahrtsladen übergeben. Ich musste das ordentlich machen und besondere Sachen an Freunde oder an die Familie weitergeben, damit alle ein Stück von Kate bekamen. Da fiel mir ein, dass Kate mir gesagt hatte, ich solle ein paar der Kleider Ruth geben. »Sie hat meine Größe. Sorg dafür, dass sie sie auch trägt. So hat noch jemand was von ihnen«, befand sie gelassen.
»Hör auf damit!« Ich hatte mein Unbehagen mit einem Lachen zu kaschieren versucht. »Wie kannst du nur so etwas sagen?«
»Diese Stiefel kannst du auch Amanda von der Arbeit geben«, fuhr sie fort und ergötzte mich mit den Details einer Einkaufstour, die sie gemeinsam unternommen hatten und auf der es zu einem scherzhaften Gerangel um dieses schicke Paar schwarzer Stiefel gekommen war.
Kate war mir immer einen Schritt voraus und dachte immer an die anderen, daran, wie sie ihnen die größtmögliche Freude machen konnte. Ich würde selbst entscheiden müssen, was ich behalten wollte, aber diese Aufgabe entmutigte mich nicht. Kate muss das gewusst haben, denn sie hatte mir diesbezüglich keine spezifischen Anweisungen gegeben. Ich hatte schon so viel bekommen, ein Leben voll geteilter Erinnerungen, und plötzlich gab mir dieser Gedanke Kraft: Anstatt Kates Habe zu verteilen, würde ich damit beginnen, die Sachen beiseitezulegen, von denen ich mich niemals trennen könnte.
Ich schlich mich hinaus auf den Treppenabsatz und löste den Riegel der Dachbodenluke. Für diese Aufgabe würde ich einen großen Koffer brauchen, überlegte ich. Als ich die Leiter auszog und ins Dunkel hinaufkletterte, tastete ich nach dem Lichtschalter. Als ich ihn betätigt hatte, fiel mein Blick auf ein paar große, verblasste Schachteln mit Erinnerungsstücken, die dort völlig unerwartet direkt vor meiner Nase standen.
»O Mann!«, platzte es aus mir heraus.
Meine Beine gaben nach, und ich musste mich an der Leiter festklammern, um nicht hinunterzufallen. Erst vor wenigen Wochen war ich auf dem Dachboden gewesen, um die Weihnachtsdekoration wegzuräumen, und da waren die Schachteln definitiv noch nicht da gewesen. Ich hatte sie seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen und starrte sie jetzt entsetzt und ungläubig an. Ich erkannte sie und traute doch meinen Augen nicht. Die Wehmut, die mich bei ihrem Anblick erfasste, war so stark wie die, die man als Kind empfindet, wenn längst verloren geglaubte Spielsachen plötzlich wiederauftauchen und einen Mahlstrom an Erinnerungen freisetzen.
Ich wusste ganz genau, was in diesen Schachteln war: Es waren unzählige Liebesbriefe, die Kate mir geschrieben hatte. Als Teenager hatte sie mich mit Briefen und Gedichten regelrecht bombardiert, vor allem in der Zeit, als sie noch sehr jung war und ihre Eltern alles daransetzten, uns auseinanderzubringen. Ich hatte jeden einzelnen davon aufgehoben, und als wir zusammengezogen waren, hatte sie sie wieder an sich genommen und sorgfältig verstaut. Das dürfte nun über zwanzig Jahre her sein. Seitdem war so viel passiert, ich konnte mich wirklich nicht daran erinnern, wann ich die Briefe zuletzt gesehen hatte. So waren sie mir beispielsweise bei unserem Umzug vor sechs Jahren nicht aufgefallen. Jetzt standen sie da und starrten mich an und forderten mich auf, sie allesamt noch mal zu lesen.
Eine Nummer wie diese war typisch für Kate, sagte ich mir, nachdem der erste Schock sich gelegt hatte. Sie war bestens organisiert, aber sentimental, praktisch, aber unverhohlen romantisch. Und jetzt verwirrte sie mich sogar noch nach ihrem Tod mit diesen unwiderstehlichen Eigenschaften. Ich konnte nicht anders, als sie dafür zu bewundern.
Wenn Kate konnte, wischte sie mir gern eins aus, aber diesmal hatte sie mir damit eine Freude gemacht, so viel stand fest. Offenbar hatte sie vorhergesehen, was ich tun würde, und die Briefe dort platziert, wo ich sie unmöglich übersehen konnte. Wahrscheinlich hatte sie sogar geahnt, dass ich beim Anblick der Schachteln vor Überraschung irgendwas ausrufen und dabei fast von der Leiter fallen würde, und an meiner verdutzten Reaktion hätte sie ihren Spaß gehabt. Wie um Himmels willen war es ihr gelungen, nach all den Jahren diese Briefe aufzuspüren, geschweige denn, angeschlossen an ein Sauerstoffgerät, das ihr das Atmen erleichterte, den Dachboden zu
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