Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gib den Jungs zwei Küsse: Die letzten Wünsche einer Mutter

Gib den Jungs zwei Küsse: Die letzten Wünsche einer Mutter

Titel: Gib den Jungs zwei Küsse: Die letzten Wünsche einer Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: St John Greene
Vom Netzwerk:
durchforsten? Das war Wahnsinn.
    Vorsichtig trug ich die Schachteln die Leiter hinunter und stellte sie feierlich mitten auf unser Bett. Dann setzte ich mich daneben und betrachtete sie ein paar Minuten lang, bevor ich sie wieder in die Hände nahm. Ich wollte diesen Moment auskosten, aber jetzt zitterte ich vor Vorfreude. Schon den Deckel abzunehmen würde mich auf eine emotionale Reise in die Vergangenheit führen. Und ich wusste, wenn ich erst mal zu lesen angefangen hatte, würde ich nicht mehr damit aufhören können.
    So viele alte Erinnerungen, die viele Jahre zurücklagen, würden geweckt werden. »Bist du dir sicher, Singe, dass du dazu bereit bist?«, fragte ich mich. »Aber ja doch«, antwortete ich mir mit einem breiten Grinsen.
    Mein erster Gedanke war, wie glücklich wir uns schätzen konnten, nur überwältigend positive Erinnerungen zu haben. Wovor hatte ich also Angst? Worauf wartete ich noch? Plötzlich fühlte ich mich wie ein Kind am Weihnachtsmorgen, das es kaum erwarten kann, nachzusehen, was sich in den Schachteln verbirgt. Aufgeregt und mit Herzklopfen nahm ich die Deckel ab. Mein Blick fiel auf die Lippenstiftküsse auf den rosa und gelben Seiten, die mir galten, und instinktiv hob ich das Notizpapier an meine Lippen und küsste Kates Küsse. Der süße rosa Farbton des Lippenstifts und Kates mädchenhafte Handschrift katapultierten mich zurück in die achtziger Jahre, und meine Augen verschlangen gierig ein Gedicht, wie sie es bereits vor mehr als zwanzig Jahren getan hatten.
Ein Gedicht zu schreiben, das ist schwer,
Ständig legen sich die Worte quer,
Ist gefunden dann der Reim,
fällt kein passend Wort mir ein,
um der Liebe Wonnen Ausdruck zu verleihn.
    Ich spürte Kates Nähe. In meinen Händen hielt ich die direkte Verbindung zu Kate als Teenager, der leidenschaftlichen, verliebten Kate, die sich mir seit unserer ersten Begegnung geduldig an die Fersen geheftet hatte, ohne auf ihre Eltern zu hören, und versprach, mich ewig zu lieben. Sie war ein umwerfendes Mädchen gewesen, und es hatte mir geschmeichelt, dass sie sich derart heftig in mich verknallt hatte. Noch jetzt konnte ich regelrecht hören, wie sie mir, begleitet von ihrem erotischen Kichern, das Gedicht vorlas, ich spürte und schmeckte sogar den zuckrigen, süßen Glanz ihrer Lippen auf meinen.
    Kate war damals auf den ersten Blick davon überzeugt, dass wir füreinander geschaffen waren. Das bestätigte sie mir immer und immer wieder, richtete ihre verführerischen Augen auf mich in der Absicht, auch mich zu überzeugen. Um ganz ehrlich zu sein: Ich teilte ihre Vision von der Zukunft nicht, jedenfalls nicht zu diesem frühen Zeitpunkt. Kate war viel zu jung, als wir uns das erste Mal begegneten, und ich viel zu sehr Aufreißer, als langfristig zu planen. Kein Wunder, dass die sterbende Kate in ihre Wunschliste schrieb: » Bitte bring den Jungs bei, Frauen zu achten und sie nicht zu hintergehen .« Sie wusste, wie Männer sein konnten, und sie wollte nicht, dass Reef und Finn in dieser Hinsicht in meine Fußstapfen der Teenagerjahre traten.
    »Lass sie auf kein Motorrad und auch auf keinen Motorroller, vor allem nicht auf der Straße« , war eine weitere Bitte, die meiner vergeudeten Jugend geschuldet war. »Ich weiß, wie Jungs sind, Singe«, sagte Kate, als sie diese Wünsche niederschrieb. »Ich weiß, wie du warst. Du kannst von Glück sagen, dass dir nie was passiert ist, aber ihnen könnte es anders ergehen. Es ist das Risiko nicht wert. Bitte sorge für ihre Sicherheit. Kauf ihnen Autos, bring ihnen Auto fahren bei, übe weiterhin mit ihnen Boot fahren, aber lass sie nicht auf ein Motorrad.«
    »Ich verspreche es dir«, sagte ich und schaute ihr dabei tief in die Augen, die meine festhielten und keinen Zweifel daran ließen, wie ungeheuer wichtig ihr das war.
    Ich war in jungen Jahren ständig auf meiner Suzuki Katana mit ihrem blitzenden Silbertank herumgedüst und hatte überhaupt nicht verstehen können, warum Kates Eltern so einen Aufstand machten und sich weigerten, sie auf dem Sozius mitfahren zu lassen. Jetzt, da ich älter und klüger bin, weiß ich genau, worum es ihnen ging. Das Leben ist kostbar, da muss Sicherheit an erster Stelle stehen. Am Anfang unserer Beziehung dachte ich nicht langfristig, Kate aber schon, und das rieb sie mir auch in ihren vielen Briefen immer wieder unter die Nase.
    Ich griff nach einem Gedicht und las die erste Seite, bis meine Tränen mich zu einer Pause zwangen.
Untrennbar

Weitere Kostenlose Bücher