Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gib den Jungs zwei Küsse: Die letzten Wünsche einer Mutter

Gib den Jungs zwei Küsse: Die letzten Wünsche einer Mutter

Titel: Gib den Jungs zwei Küsse: Die letzten Wünsche einer Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: St John Greene
Vom Netzwerk:
miteinander verstrickt,
Ist es unser Geschick,
Uns weiterhin zu lieben,
selbst noch als Ehepaar.
    Als Kate dies schrieb, war sie sechzehn, und obwohl wir uns bereits ein Jahr kannten, gingen wir erst seit kurzem richtig miteinander. Ich fühlte mich geschmeichelt, fand sie aber auf süße Weise naiv. Doch es sollte sich herausstellen, dass sie weitaus mehr wusste, als ich ihr zugetraut hätte: Ihre Vision traf ins Schwarze.
    Und jetzt war es 2010 und sie nicht mehr hier, und trotzdem war sie mir noch immer einen Schritt voraus. Ich kam nicht darüber hinweg und war machtlos gegen meine Tränen, obwohl die Erinnerungen meine Begeisterung weckten und mir Auftrieb gaben. Kate hatte es sorgfältig geplant, dass ich in den Tagen und Wochen, die auf ihren Tod folgten, hier sitzen und diese Briefe lesen würde. Es war unfassbar. Sie hatte genau gewusst, dass diese Erinnerungsstücke mich in dieser Zeit voller Gefühlschaos aufrichten würden.
    Bei jeder neuen Seite, die ich las, machte mein Herz einen Freudensprung, und der Kummer, der kalt meine Brust einschnürte, löste sich, weil Liebe und Zärtlichkeit mir das Herz wärmten. Die Intention dahinter war nicht, mich zu bremsen und in den Erinnerungen an unser Verliebtsein gefangen zu halten. Kate wollte, dass ich jemand anderen kennenlernte, das wusste ich. Die Briefe waren ein Geschenk ungenierter romantischer Nostalgie um der alten Zeiten willen, und ich dankte ihr im Stillen dafür.
    Ich konnte mir Kates Gesicht gut vorstellen, wie sie jetzt auf mich herabsah. Mit einem wissenden Lächeln der Ermutigung und einem kleinen Nicken, wie um zu sagen, dass es ganz in Ordnung war, wenn freudige Erregung und Verzweiflung, Begeisterung und Trauer nebeneinander existierten. »Tauch ein!«, würde sie sagen. »Erfreu dich an den Erinnerungen!« Je mehr ich las, umso mehr verlangte es mich danach weiterzulesen, und gierig verschlang ich Seite um Seite, nahm die nächste in mich auf, noch ehe die ganze Glückseligkeit der letzten bei mir angekommen war.
    Ich hob eins von Kates Gedichten an meine Nase und schnüffelte daran. Sie hatte die Angewohnheit, ihre Liebesbriefe mit blumigen Parfüms zu besprühen, und mir sind die süßen Wolken, die jedem Umschlag entströmten, sobald ich ihn öffnete, noch gut im Gedächtnis. Der Duft löste jedes Mal eine heftige Reaktion in mir aus und ließ mich die Stunden oder Tage zählen, die es dauerte, bis ich sie sehen und berühren und ihren Duft wieder einatmen konnte. Als Teenager verwendete Kate immer Le Jardin von Max Factor. Die Flasche in ihrer zierlichen weißen Handtasche sah ich so deutlich vor mir, als wäre sie in der Handtasche gewesen, die ich gerade ausgeleert hatte. Ich konnte den Duft an ihrem Hals riechen – frisch und feminin, genau wie Kate. Und jetzt glaubte ich, tief eingegraben in den Fasern des verblassten Papiers, noch einen schwachen Hauch davon zu erahnen, aber sicher war ich mir nicht.
    Ich legte mich aufs Bett zurück und wühlte meinen Kopf in Kates Kissen, um sie wieder zu riechen. In letzter Zeit hatte sie immer Charlie Red aufgelegt. Sie hatte diesen Duft an einer der jungen Krankenschwestern entdeckt, sie nach der Marke gefragt und sich dann von mir eine Flasche von dem Parfüm gewünscht. Es wurde zu Kates Lieblingsparfüm, und mir gefiel es auch. Jetzt erwartete ich, wieder die befriedigende, vertraute Dosis des dem Kissen anhaftenden Dufts einzuatmen, wie jede Nacht, als Kate noch hier war, und wie in all den Nächten seither. Mich ihr so nah zu fühlen, dass ich sie riechen konnte, half mir Schlaf zu finden, aber jetzt musste ich bestürzt feststellen, dass da nichts war.
    Ich schnüffelte erneut, diesmal heftiger. Dabei nahm ich eine feine Spur ihres Parfüms wahr, fast genauso schwach wie die auf ihrem Liebesbrief. Mein Blick fiel wieder auf das Gedicht in meiner Hand. Das handgeschriebene Datum oben lautete Juni 1987, und da kam mir ein erschreckender Gedanke. Wie konnte die achtunddreißigjährige Kate, die noch vor wenigen Wochen in diesem Bett gelegen hatte, bereits genauso verblassen wie die sechzehnjährige Kate?
    Es war ein deprimierender Augenblick, der mich mit einer schwer zu akzeptierenden Wahrheit konfrontierte: dass von nun an jede Version von Kate nur noch eine Erinnerung war und es keine Möglichkeit mehr gab, neue Erinnerungen zu schaffen. Immerhin tröstete es mich, dass ich über verdammt viele Erinnerungsstücke verfügte, also wandte ich mich wieder den Schachteln zu und zog ein

Weitere Kostenlose Bücher