Gib mir deine Seele
Sie hatte ihn durchschaut, und Constantin war sich noch heute nicht sicher, ob sie tatsächlich nicht mehr zur ihrer alten Form zurückfinden konnte – oder es einfach nicht wollte. Im Grunde war es auch gleichgültig, denn als Gesangscoach besaß sie einen ungleich höheren Wert. Er bezahlte sie gut dafür, und Elena brauchte sein Geld.
Die Nominierten, so hatte er gehört, waren ausnahmslos exzellent ausgebildet und äußerst begabt. Als einer nach dem anderen auftrat, konnte er sich selbst davon überzeugen. Pauline hatte sich gegen eine starke Konkurrenz durchgesetzt, was ihn jedoch nicht überraschte. Ihr Talent war – zumindest in den letzten hundert Jahren, wenn nicht noch länger – einzigartig. Und sie war heute auch die Einzige, die ihn interessierte.
Endlich wurde sie angekündigt. Ein Raunen erhob sich aus den vorderen Reihen des Parketts. Die Eingeweihten, die dort saßen, ahnten bereits, dass sie nun die Gewinnerin zu hören bekamen. Nicholas, der irgendwann hereingekommen war und sich leise neben Constantin gesetzt hatte, pfiff kaum hörbar durch die Zähne. »Audrey Hepburn mit Kurven«, flüsterte er.
Der Vergleich ist gar nicht so schlecht , dachte Constantin. Das lange, schwarze Kleid war zwar raffiniert geschnitten, wirkte aber dennoch auf bezaubernde Weise schlicht und unterstrich, obwohl aus nachtschwarzer Seide gefertigt, Paulines Unschuld. Kein Schmuck störte den Anblick. Ärmellos und hochgeschlossen hätte es geradezu protestantisch erscheinen können, wäre da nicht der hohe Schlitz gewesen, der bei jedem Schritt einen Blick auf ihr langes Bein erlaubte und die Fantasie der Zuschauer beflügeln musste. Seine jedenfalls schlug bei dem Gedanken daran, was nicht zu sehen war, wilde Kapriolen.
Pauline nickte dem Dirigenten des kleinen, auf der Bühne sitzenden Streichorchesters zu, am Flügel saß nun Julian Fray, was aber niemand zu bemerken schien, weil das Publikum erwartungsvoll auf die zwölfte und letzte Teilnehmerin blickte.
Jeder Finalist musste zwei Partien vortragen. Eine eigene Wahl, die Kür sozusagen, und gleich im Anschluss die von der Jury ausgewählte Arie als Pflichtdurchgang.
Wie erwartet brillierte Pauline als Micaëla. Das Publikum applaudierte begeistert. Ihre anschließende Version der Konstanze, die Mozart einst seiner Ehefrau auf den Leib geschrieben hatte, war jedoch geradewegs atemberaubend. Wie sie in der Rolle der Sklavin auf die Drohungen ihres orientalischen Besitzers reagierte, der ihr »Martern aller Art« in Aussicht stellt, falls sie ihn nicht endlich erhört, ließ Constantin erschaudern. Und angesichts ihres flehenden Gesichtsausdrucks fragte er sich, ob Pauline dabei nicht auch an ihn dachte.
Nachdem sie geendet hatte, herrschte für mehrere Sekunden vollkommene Stille. Der Dirigent wurde langsam nervös und wollte sich gerade umsehen, da brach ein Sturm der Begeisterung los. Die Leute standen auf und applaudierten, vereinzelt waren Bravo-Rufe zu hören, und hinter ihm entließ Nicholas mit einem Seufzer die Luft, die er angehalten haben musste. »Das war intensiv«, sagte er und lehnte sich zurück.
Sie wussten beide, dass Pauline gut war. Doch mit dieser Eindringlichkeit ihres Vortrags hatten auch sie nicht gerechnet. Sie selbst schien erst langsam wieder zu sich zu kommen. Schließlich lächelte sie scheu und verbeugte sich mehrfach, bis der Applaus versiegte.
Die anderen Sänger kamen auf die Bühne, und die Preisverleihung nahm ihren Lauf. Niemand war überrascht, als der Moderator am Ende die Gewinnerin verkündete: »Pauline Roth.«
Die drei Erstplatzierten sollten programmgemäß eine Zugabe geben, was unter diesen Bedingungen eine Herausforderung darstellen würde. Pauline sah aus, als wollte sie weinen, und bei der georgischen Zweitplatzierten flossen tatsächlich Tränen. Der junge chinesische Tenor wirkte zumindest aufgewühlt.
Immerhin gab man ihnen zehn Minuten Zeit, sich zu fassen, bevor sie wieder auf die Bühne mussten, um ihre Zugaben zu singen. In dieser Zeit spielte Julian Bach mit so überzeugender Innerlichkeit – zuerst scheinbar zerstreut, dann aber fordernd und glasklar –, dass auch Constantin, obwohl durch die Bekanntgabe der Gewinner schon befriedigt, andächtig lauschte.
Er war sich immer noch nicht im Klaren darüber, warum das Schicksal sie erst miteinander bekannt gemacht hatte, um ihm schließlich einen anderen Auftrag zu geben. Zweifellos war Julian ein musikalisches Genie, und die meisten Zuschauer wussten
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