Gib mir deine Seele
Artbegrüßte, mit drei Küssen rechts und links. Dabei flüsterte er Pauline ins Ohr: »Du siehst niedlich aus. Die werden sich umgucken, wenn du sie nachher alle an die Wand singst.«
Ein ziemlich nervöser Stage Manager kam zu ihnen und erklärte Pauline den Ablauf. Sie sollte bei spärlicher Beleuchtung auf die Bühne gehen und ihren Platz neben dem Flügel einnehmen. Die Inspizientin würde sie der Jury ankündigen. »Danach wird es ziemlich hell. Erschrecken Sie sich nicht«, sagte er freundlich.
Die Kamerafrau, die ihnen bis eben gefolgt war, machte noch einige Aufnahmen und verschwand irgendwann lautlos. Draußen sang eine andere Micaëla, aber Pauline hörte nicht zu. Stattdessen betrachtete sie die vielen leuchtenden Knöpfe und Monitore am Inspizientenpult und war wieder einmal froh, diesen Job nicht machen zu müssen. Anstatt für einen ordentlichen Ablauf der Vorstellungen zu sorgen, hätte sie vermutlich ein heilloses Durcheinander gestiftet. Auf so viele Dinge gleichzeitig zu achten war nicht ihre Sache. Heute allerdings schien sich die Inspizientin zu langweilen, denn sie gähnte herzhaft und gab einen Seufzer von sich.
Gleich darauf kam eine nicht mehr ganz junge Asiatin von der Bühne, gab ein von Herzen kommendes » Fuck! « von sich und rannte heulend Richtung Garderoben. Ihr folgte ein spindeldürrer Pianist; er würdigte Julian keines Blickes und murmelte etwas, das verdächtig nach»I brauch a Bier« klang .
»Jetzt«, sagte jemand und schob sie durch die Seitengasse hinaus.
Im Halbdunkel konnte Pauline nur mit Mühe den Flügel erkennen. Sie stellte sich davor auf, wie man es ihnen bei der Einführung erklärt hatte. Der beeindruckende Zuschauerraum ließ sich im Moment nur erahnen. Im Parkett allerdings sah sie beleuchtete Plätze, auf denen die Jury saß, deren Mitglieder sich momentan noch leise unterhielten. Pauline versuchte wegzuhören, denn was diese Frauen und Männer über die vorherige Sängerin dachten, wollte sie nicht wissen.
Weiter hinten sah sie andere Leute wie dunkle Schemen. Die Vorausscheidungen waren nicht öffentlich, aber Agenten und Theaterleute hatten natürlich dennoch Zutritt. Vorne links blitzte ein roter Haarschopf auf, das musste Minka sein. Du lieber Himmel, die will doch nicht etwa filmen?
Den Blick auf den ersten Rang gerichtet, bemühte sich Pauline, Ruhe zu bewahren. Warum geht es denn jetzt nicht los?
Hinter sich hörte sie, wie Julian am Flügel Platz nahm. Ein kurzer Blick zur Seite, der Stage Manager hob beide Daumen. Sie sah zurück ins Publikum, lächelte, und Scheinwerfer flammten auf. Darauf war sie vorbereitet gewesen und zuckte nicht zusammen, sondern verbeugte sich leicht. Die Inspizientin nannte über Lautsprecher erneut ihren Namen und sicher noch weitere Details, doch Pauline sammelte sich ein letztes Mal und hörte ihr nicht zu. Sie war ganz bei sich, und eine mysteriöse Ruhe überkam sie. Aus dem Parkett kam ein »Bitte« , und Julian schlug den ersten Ton an.
Danach war sie Micaëla. Eine zarte junge Frau, die vom Lande gekommen war, um ihren José, der eine andere liebte, dazu zu bewegen, ihr nach Hause zu folgen. Fort von den gefährlichen Schmugglern, zurück zu seiner sterbenden Mutter. Voller Angst und doch fest entschlossen, sich nicht zu fürchten, bittet sie Gott um Beistand.
Als der letzte, schmelzende Ton verklungen war, stand Pauline noch einen Augenblick mit gefalteten Händen da, bis ein lautes Bravo aus den hinteren Reihen ihre Verzauberung auflöste. Verlegen verbeugte sie sich und verließ eilig die Bühne.
»Klasse«, sagte Henry und umarmte sie.
»Hab ich’s nicht gesagt?« Julian gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange und drückte ihr eine Visitenkarte in die Hand. »Wir sehen uns morgen.« Die Notenblätter unter den Arm geklemmt, verschwand er im Dunkel der Hinterbühne.
»Ich muss mich irgendwo hinsetzen.« Paulines Herz galoppierte schneller, als gut für sie war.
Henry begleitete sie nach draußen in den hell erleuchteten Gang. »Du bist ganz blass. Was ist denn los?«
»Ach, nichts, das ist nur das Neonlicht.« Zum Glück war die Garderobe nicht weit. An der Tür blieb Pauline stehen. »Ich habe plötzlich einen irren Hunger. Könntest du vielleicht …?«
»Ja, klar. Ich bin gleich zurück.«
Dankbar für den Moment der Ruhe, ließ sich Pauline auf einen kleinen Sessel fallen, öffnete ihre Pillendose und spülte die Tablette mit großen Schlucken Wasser hinunter.
Es ist alles in Ordnung. Ich
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