Gib mir Menschen
Wahl habe ich denn schon«, sagte ich. »Ich bin todkrank. Ich habe nur noch sechs Monate zu leben. Danach ist mir das Koma sicher, und ein funktionsuntüchtiges Gehirn ist mit dem Tod gleichzusetzen. Sie wissen so gut wie Ihre Kollegen, daß auf mich das Siechtum wartet. Und je länger ich warte, desto geringer wird die Aussicht, daß ich in naher Zukunft auf Heilung hoffen kann. Ich habe mich entschlossen, je eher, desto besser.«
Ich habe das für nicht so schlimm gehalten, mit wachem Geist dazuliegen und einfach nur zu denken. Laß die Seele einfach für ein paar Jahre baumeln, beschäftige dich mit Dingen, für die du früher nie Zeit hattest, einfach zu denken, zu fabulieren, Probleme auf zuwerfen und Lösungen anzustreben – du hast Zeit, alle Zeit dieser Welt … Aber golden ist alle Theorie, düster dagegen die Wirklichkeit. Dr. Benkser hat sie im richtigen Licht gesehen. Es ist eine Qual, nichts anderes als nachdenken zu können. Dabei war das mit dem Phantomkörper gar nicht so schlimm.
Als ich nach der Operation aufwachte, da überkam mich zuerst einmal Panik. Ich dachte, es müsse etwas schiefgegangen sein. Denn ich fühlte meinen Körper immer noch, konnte mich nur nicht bewegen. Schwärze war um mich. Lange Zeit beherrschte mich die Angst, daß man aus irgendwelchen Gründen die Tiefkühlung an mir gar nicht vorgenommen haben könnte. Aber mit der Zeit, in der sich an meinem Zustand nichts änderte, kam ich doch zu dem Schluß, daß es getan worden war.
Es war gelaufen, man hatte das Gehirn bereits aus meinem Schädel operiert und getrennt vom Körper gelagert. Aber – kein Gefühl von Kälte. Nichts, bis auf die Illusion, daß mein Körper noch da war.
Dr. Benkser hat mir den Vorgang in allen Einzelheiten erklärt. Ich bereue längst, ihm zugehört zu haben. Ich hätte ihm besser eins auf die Nase geben sollen, um ihn zum Verstummen zu bringen. Aber nein, ich habe ihn noch dazu animiert, mir alles ganz genau zu erzählen. Ich Idiot mußte alle grausigen Details dieses Vorgangs erfahren. Ich durfte mir nicht einmal den gnädigen Zweifel darüber bewahren, ob zuerst das Gehirn aus dem Schädel entfernt und in einem Glyzerinbad bei –22 Grad Celsius eingelagert wird, oder ob zuerst der Körper versorgt und das Blut gegen eine Salzlösung ausgetauscht wird, die mit Dimethylsulfoxyd angereichert ist.
Das ist die Neugierde des Schriftstellers, eine wahrhafte und schon ans Perverse grenzende Gier nach Information. Jetzt sehe ich zeitweise immer noch den Vorgang der Gehirnentnahme vor mir. Aber es ist nicht mehr so schlimm wie am Anfang, man gewöhnt sich an alles.
Natürlich wollte ich auch wissen, wieso Körper und Gehirn getrennt tiefgekühlt werden müssen. Der Grund ist der, daß das Gehirn viel empfindlicher ist als alle anderen Organe und darum eine Spezialbehandlung braucht. Der Körper lagert nämlich bei –190 Grad Celsius in flüssigem Stickstoff. Diese Art der Aufbewahrung bringt jedoch gewisse nachteilige Folgen mit sich. So können Gefrierschäden nicht ganz ausgeschlossen werden, obwohl das Lösungsmittel DMSO, wie das Dimethylsulfoxyd genannt wird, wahre Wunder wirken soll. Kurz und gut, die Eiskristalle, die sich bilden, können die Zellen angreifen und schädigen. Aber sofern man nicht heute schon in der Lage ist, solche Gefrierschäden zu beheben, wird man es in nächster Zukunft sein. In diesem Punkt war Dr. Benkser sich absolut sicher. Der Zweck dieses Tiefschlafs ist es, den Herzmuskel zu schonen und den ganzen Körper in eine scheintote Starre zu versetzen. Eine Art Winterschlaf, bei der die Körperfunktionen jedoch auf ein absolutes Minimum herabgesetzt werden. Dr. Benkser nannte es einen »reversiblen Tod«. Grob gesprochen, ist der Körper klinisch tot.
Anders ist es mit dem Gehirn. Es muß in einem Glyzerinbad künstlich am Leben gehalten werden, die Durchblutung muß gesichert sein, damit es Sauerstoff bekommt und nicht abstirbt. Denn, so Dr. Benkser, das Gehirn sei wichtigster Bestandteil des menschlichen Organismus und sicherlich auch nicht in der Zukunft auswechselbar. Also muß es weiterarbeiten. Darum bin ich auch während des Kältetiefschlafs zum Denken verurteilt.
Anfangs war ich von diesem Gedanken begeistert. Denn ich sah die Angelegenheit mit den Augen des Schriftstellers, und ich malte mir schon aus, wie es sein würde, wenn ich in einem Jahrzehnt oder in zweien aus dem Kältebad geholt und wieder zusammengeflickt werden würde. Dann könnte ich alle meine
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