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Gib mir Menschen

Gib mir Menschen

Titel: Gib mir Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Vlcek
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Im Fall eines Atomkriegs schützte das Felsmassiv des Toten Gebirges gegen die Radioaktivität der nuklearen Bomben, die Europa zu erwarten hatte. Selbst der Fallout, von dem auch dieses Gebiet nicht verschont bleiben würde, konnte den in den Höhlen Eingeschlossenen nichts anhaben, weil radioaktiver Regen sich gereinigt haben würde, bevor er auf seinem Weg durch die Hunderte Meter dicken Felsschichten einsickerte. Einen besseren Schutz konnte man sich gar nicht vorstellen. Und als dickes Plus kam hinzu, daß dieses Gebiet von keinerlei strategischer Bedeutung war.
    Man mußte die Dinge auch von dieser Seite betrachten, wenn man sich für einige Jährchen aufs Ohr legte. Darum, fand ich, war die Lage des Unsterblichkeitszentrums schlechthin ideal, von welcher Seite man die Sache auch betrachtete. Hier konnte man die Jahrzehnte überdauern und friedlichen Dornröschenschlaf halten, solange es die technischen Gegebenheiten erlaubten.
    Ich trage noch immer das Bild der märchenhaft schönen Landschaft in mir, das ich auf der Fahrt hierher aufgenommen habe. Oft habe ich mich gefragt, ob das Wasser der Steyr immer noch so klar ist, sich das Licht so tiefgrün darin bricht, die senkrechte Felswand, an deren Fuß der Eingang der Höhle liegt, immer noch den Eindruck von Unberührtheit erweckt – ob dort oben noch die Gemsen springen, oder ob sie ausgerottet wurden, die Bäume entlaubt, das Wasser vergiftet, oder ob es vielleicht versiegt und der Lauf der Steyr nur noch an dem ausgetrockneten Geröllbett zu erkennen ist.
    Ich war vorher noch nie hier und habe dieses herrliche Tal, das am Toten Gebirge in einer Sackgasse endet, nur auf der ersten und letzten Fahrt zum Unsterblichkeitszentrum betrachten können. Und ich muß mich immer wieder fragen, ob es meinen Vorstellungen noch entsprechen wird, wenn ich aus dem Kälteschlaf geweckt werde.
    Wie oft habe ich mich gefragt, wann das sein wird? Ich habe jeglichen Zeitbegriff verloren und nie gewußt, ob Stunden oder Jahre vergangen waren, seit dem Augenblick, da Dr. Benkser mich narkotisierte. Seit jenem denkwürdigen Tag, als ich in München zusammen mit meinen Anwälten und den Vertretern von Dr. Benksers Gesellschaft den Vertrag perfekt gemacht habe.
    Ich glaubte, daß dies der schlimmste Augenblick meines ganzen Lebens wäre, als ich erfuhr, daß ich einen Gehirntumor habe, der mir nur noch ein halbes Jahr erlaube. Nicht eines der herkömmlichen Krebsgeschwüre, sondern ein parasitäres Gewächs, das viel schneller wuchert, bösartiger und heimtückischer – und absolut unheilbar ist. Eine neuartige Krankheit, von der weltweit erst einige Fälle bekannt waren, und die man schlicht Gehirnpest nannte.
    Meine Gefühle, als ich das erfuhr, sind nicht zu beschreiben. Ich hatte gar keine. In mir war alles tot. Der Gedanke, eine Stiftung zu gründen, die sich der Erforschung der Gehirnpest widmen sollte, kam mir zwar, aber ich war zu egoistisch, um ihn weiterzuverfolgen. Was hatte ich für einen Vorteil davon, eine Forschungsarbeit zu finanzieren, die ehestens Jahre nach meinem Tode die ersten Ergebnisse erbringen konnte? Ich wollte etwas für mich tun.
    Als Alternative bot sich aber nur der Kältetiefschlaf an. Nach allem, was ich von Dr. Benksers Agenten erfuhr, standen dabei meine Chancen recht gut, so daß ich wieder neue Hoffnung schöpfen durfte. Und so verblaßte das Entsetzen der ersten Zeit, das ich verspürt hatte, als ich erfuhr, daß ich ein Todgeweihter war.
    Noch einmal wurde mir deutlich vor Augen geführt, was für ein Schicksal ich zu erwarten hatte, wenn ich nicht etwas tat, um meinen Krankheitsprozeß zu stoppen.
    Am Tage vor meiner letzten Reise ging ein Foto durch die Weltpresse. Es zeigte ein Neugeborenes mit flachem Schädel und einer nur fingerhohen Stirn. Man nannte es nach seinem Geburtsort das »Mailänder Baby«. Es war mit chronischer Gehirnpest geboren worden. Dazu verdammt, bis zu seinem Lebensende ein lebender Toter zu sein. Denn das, was es in seinem Schädel hatte, konnte man nicht als Gehirn bezeichnen, es wog nur wenige Gramm. Es reichte aus, den Körper am Leben zu erhalten, aber es war zu wenig für ein menschenwürdiges Dasein.
    Das Foto des »Mailänder Babys« und der ärztliche Befund über meine Gehirnpest dokumentieren die furchtbarsten Stationen in meinem Leben. Aber das Entsetzen, das ich damals empfand, läßt sich nicht mit der endlos scheinenden Qual vergleichen, die mir das ständige Denken verursacht hat.
    Dennoch bereute ich

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