Gib mir Menschen
der Reinkarnation.
»Habe ich dich erschreckt?« hörte ich sie wie von ferne fragen, ihre Stimme klang ehrlich erschrocken. »Das tut mir leid. Ich wollte es nicht. Aber man kommt anders nicht bis zu dir vor. Was ich getan habe, war sicher ungehörig, und wenn du willst, alter Mann, dann gehe ich auf der Stelle wieder.«
»Nein!« Es war ein Verzweiflungsschrei. Dieses Mädchen, noch weniger beherrscht als Anima und lange nicht so abgeklärt wie Mora, mußte mir die Wahrheit verraten. Sie allein konnte mir die Antworten auf die quälenden Fragen geben.
»Geh nicht weg«, bat ich. Ich weiß, ich hätte statt dessen Alarm schlagen und den Nothilfedienst aktivieren sollen. Aber das hier war mir wichtiger als mein Leben. »Bitte, bleib bei mir.«
»Wenn ich dir nicht lästig bin, alter Mann.« Sie lächelte, wie es nur Mora und Anima gekonnt hatten. »Ich glaube gar nicht, was man über dich erzählt.«
»Was erzählt man sich?«
»Daß du ein tyrannischer, eigenbrötlerischer Griesgram warst, ein diktatorischer Kunstpapst, der die Entwicklung der bildenden Künste hemmte.«
»Daß ich war? «
»Oh, das ist mir ’rausgerutscht.« Sie biß sich auf die Lippen, behielt jedoch ihren unbekümmerten Ausdruck bei. »Das hätte ich wohl nicht sagen dürfen, aber nun ist es schon mal heraus. Von dort, die Straße weiter oben, von wo ich gerade komme, dort giltst du schon lange als tot. Ich habe dort eines deiner Bilder gesehen, und es gefiel mir so gut, daß ich mir in den Kopf setzte, dich zu besuchen. Ich war schon mal hier, aber einige Stunden später, und da warst du nicht mehr am Leben …«
Sie hielt wieder inne und preßte die Hand auf den Mund. Dabei bekam sie schuldbewußte, große Augen. Sie war jetzt Anima, die wieder mal über die Stränge geschlagen hatte und Mora, der ein Lapsus unterlaufen war.
»Sprich nur weiter, kleine Anima, oder soll ich Mora sagen?«
»Mir ist jeder Name recht. Und es macht dir gar nichts aus, daß ich dich an deinen Tod erinnert habe? Du trägst es gefaßt, alter Mann. Naja, alle Menschen sind sterblich, und ich könnte dich mal besuchen, wenn du noch jünger bist …«
»Das wirst du gewiß tun … getan haben …« Es verwirrte, sich mit einem Mädchen zu unterhalten, das die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft wie eine Straße sah, die sie beliebig auf und abschreiten konnte.
»Von wie weit oben kommst du?« fragte ich.
Sie machte ein nachdenkliches Gesicht.
»So genau kann ich das nicht sagen, ich habe einen schlechten Zeitsinn. Aber dort, wo ich gerade war, kennt man dich noch gut. Ich habe dort einen Freund, der kunstinteressiert ist. Aber das ist ein Bilderstürmer, und er verteufelt dein Lebenswerk. Ich werde ihm sagen, daß er sich irrt. Du bist ein guter Mensch, alter Mann.«
»Wo hast du noch Freunde auf der Straße der Zeit?«
»Überall. Es ist schwer für mich, die Richtung zu bestimmen. Da ist zum Beispiel Gurr. Er kann nicht mal mit mir reden, weil er keine Sprache hat. Aber er ist ein sehr gelehriger Schüler. Er kann schon mit dem Feuerstein Funken schlagen, nur muß ich ihm noch die Angst vor dem Blitz nehmen. Und dann gibt es Hely, der mit Geschichte zu tun hat, von ganz, ganz weit oben auf der Straße …«
Bieröffner! schoß es mir sogleich durch den Kopf. Mein Herz … es würde wohl nicht mehr lange dauern. In ein paar Stunden würde mich das Mädchen als Toten antreffen … vorgefunden haben …
»Dir ist nicht gut, alter Mann. Soll ich dich jetzt allein lassen und früher wiederkommen?«
Ich nickte.
Sie würde wiederkommen, aber dann würde sie kein kleines Mädchen mehr sein, sondern eine Dame – und ich noch ein Halbwüchsiger. Nun, sie besaß viele Freunde, zu allen Zeiten, und da sie einen schlechten Zeitbegriff hatte, würde sie sich an mich erst wieder in dreizehn Jahren erinnern und einen zu großen Sprung in die Vergangenheit tun und mich treffen, als ich noch zwanzig war und Student der Kunstakademie. Und sie würde meinen, daß ich ihr Geheimnis kenne, weil sie es mir dreizehn Jahre vorher verraten hatte. Und wenn ihr dann bewußt wurde, daß sie dies, von meiner Warte aus betrachtet, erst in achtzig Jahren tun würde, würde es sie fast um den Verstand bringen. So geschehen vor achtzig Jahren:
»Aber Alby, du weißt doch, daß es sich anders verhält. Ich erinnere mich ganz genau, daß ich es dir schon vor Jahren erklärt habe. Damals war ich noch ein …«
So hatte Anima zu mir gesprochen, und ich vollendete den Satz
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