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Gibraltar

Gibraltar

Titel: Gibraltar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Reh
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Telefon klingelte nicht. Sie erhob sich unnötig mühsam und trat mit einer Zigarette ans Fenster. Die Fliege knallte gegen die Scheibe und suchte den Ausgang.
    »Es war ihre Entscheidung, die Beziehung zu beenden«, hatte Johann an jenem Abend gesagt. »Ich hatte damit nichts zu tun. Sie wollte das schon vorher. Nur deswegen ist das passiert.«
    »Aber hast du nicht mit Carolin gesprochen?«, fragte Stefanie jetzt. »Ich meine, sie macht einfach Schluss mit dir, und du …«
    »Sie war plötzlich weg. Ich wusste ja, dass irgendwas los war. Wir hatten eine Krise. Dann sagt sie plötzlich: Ich mache ein Auslandssemester, auf Wiedersehen.«
    »Und du hast nicht mehr mit ihr gesprochen?«
    »Wir haben ein paarmal telefoniert. Nach ihrer Rückkehr ist sie irgendwo aufs Land gezogen und hat geheiratet. Ich weiß nur, dass sie ein … Moment mal.« Er fixierte sie. »Hat er sonst noch was erzählt? Von wem ist es?«
    Sie drehte sich halb zu ihm und blies den Rauch zum Fensterspalt hinaus.
    »Ich habe mich aus diesem Thema rausgehalten, Thomas. Das war eine Sache zwischen dir und Johann.«
    »Du hast dich … was?   Rausgehalten ? Aus dem   Thema ?«
    »Thomas …«
    »Dein Mann geht mit der Freundin deines Sohnes ins Bett, und du hältst dich aus diesem Thema raus?«
    »Thomas, ich …«
    »Kannst du mir mal sagen, was das für ein kranker Scheiß ist, den ich mir hier anhören muss?«
    »Hey, komm jetzt«, sagte Stefanie.
    »Nein, das kann ich dir nicht sagen!«, schrie Helene ihn an. Beim Aufstehen stieß sie an den Tisch; ein Schmerz wie von einem heißen Draht fuhr ihr durchs Genick. Ihre Tasse schwappte über. »Und zwar, weil wir hier nicht bei einem Verhör sind! Du bist mein Sohn, und du hast nicht so mit mir zu reden!«
    Auch Thomas war aufgesprungen. Er schrie ebenfalls; Stefanie versuchte vergeblich, ihn zu beschwichtigen. »Also warum verdammt noch mal holen wir Gudvang nicht sofort hier rein und erzählen ihm mal ein bisschen was über unsere tolle Familie?«
    Thomas’ verdammter Köter kläffte die ganze Küche zusammen. Sie warf die Kippe aus dem Fenster. Plötzlich war ihr Kopf leer, und ehe sie es bemerkte, fand sie sich auf dem Weg in den Salon. Noch im Korridor begann sie zu fallen. Dann war Ulla neben ihr und half ihr vorsichtig auf das Kanapee. Sofort schloss sie die Augen.

7
    Für die nächsten fünf oder sechs Jahre hatte ihre gesellschaftliche Funktion, und somit neben der Erziehung der Kinder ihre Hauptaufgabe, im Ausrichten von Abendessen und Empfängen im Dahlemer Haus bestanden.
    Diese Anlässe galten Freunden, Geschäftspartnern und möglichen Kunden und waren außerordentlich beliebt. Das lag ganz wesentlich daran, dass Helene ihr Metier beherrschte. Sie konnten das Esszimmer so herrichten, dass an der großen Tafel bis zu 16 Personen Platz fanden. Die Küche musste für die Anforderungen technisch umgerüstet werden. Vor den Anlässen ließ sie einen Koch das Menü zusammenstellen und buchte Servicekräfte; mit der Zeit entwickelte sich daraus ein Team, auf das sie vertraute und immer wieder zurückgriff. Aus ihren Empfängen wurde schnell eine Art Institution, die jene perfekte Qualität, für die sie bald bekannt war, stets aufs Neue zu beweisen hatte. Helene kontrollierte von der Druckfarbe der Einladungskarten über die angelieferten Menüzutaten bis zum makellos Glanz noch der letzten Espressotasse alles, was zum Gelingen oder Nichtgelingen des Abends irgend beitragen konnte. Sie wusste, wann Kaviarmesser und Sorbetlöffel eingedeckt werden und in welchem Winkel das Weißwein- unter dem Richtglas angeordnet sein musste. Den Zentimeter, den dieses wiederum von der Spitze des Messers für den Hauptgang entfernt sein musste, konnte sie exakt abschätzen.
    Ihr Reitunfall wurde auch nach Beendigung des Heilungsprozesses nicht zur bloßen Erinnerung, denn bei dem Sturz war auch die Axis, der zweite Halswirbel, der maßgeblich für die Drehung des Kopfes zuständig ist, irreparabel beschädigt worden. Sie behielt, als eine Art Markenzeichen, eine gewisse Steifheit der Bewegungen zurück. Wenn sie sich an jemanden wandte, drehte sie nicht den Hals, sondern den gesamten Körper in seine Richtung; um den gewissermaßen aufdringlichen Impetus dieser Bewegung abzumildern, bemühte sie sich um entsprechend größere Distanz.
    Das Sitzen bereitete ihr Schmerzen; erträglich war es nur mit kerzengeradem und durchgedrücktem Rücken. Am liebsten stand sie, während sie zwischen den Gängen mit

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