Gibraltar
Jahr später machte er ihn zum Prokuristen. Tatsächlich belebte Feldberg Alberts’ Beteiligung an Immobilienwerten, und auch die Objektentwicklung – nicht unbedingt ein traditionelles Geschäftsfeld der Bank – trieb er von Berlin aus voran. Wie sie vorausgesagt hatte, kannte Feldberg nicht nur die Markt- und Bedarfslage, sondern auch die Abläufe von Grundstücksvermittlung, Bauüberwachung und Förderungsverfahren, ganz zu schweigen von den vielfältigen steuerlichen Fragen. Sie hielt ihn in jeder Hinsicht für einen Zugewinn. Und auch Johann tat das.
8
Sie musste eingenickt sein, denn sie hatte es nicht läuten hören. Sie hatte geträumt. Der Schauplatz des Traums erinnerte sie an eine Suite wie jene im Gasthof Zum Goldenen Hirsch in Bayreuth. Sie konnte sich an den Traum selbst nicht mehr erinnern; nur daran, dass es um sie und Johann ging. Das Bild der Suite driftete als einziges Überbleibsel mit hinüber, während sie erwachte. Dass sie sich auf solchen Reisen ein Bett teilen mussten, hatten sie mit geschäftsmäßiger Routine hingenommen. Sie hatten so viel Übung darin, sich wenig zu beachten, dass die Unfreundlichkeit ganz daraus verschwunden war. Die beiden Räume dieser, aber auch anderer Suiten hatten es ihnen einfach gemacht, Schränke und Bad nacheinander mit den persönlichen Gegenständen auszustatten. Wenn sie sich begegneten, zum Beispiel im Türrahmen, ließen sie einander höflich den Vortritt. Sie sagten Bitte und Danke.
Sie kleideten sich nacheinander und in verschiedenen Zimmern aus und an. Das Bad benutzte grundsätzlich Johann zuerst, wonach er sich ins Schlafzimmer zurückzog, das Licht löschte und mit einem »Gute Nacht« signalisierte, dass nun alles für sie bereit sei. Sie schaltete dann den Fernseher aus, entkleidete sich bei geöffneter Tür im Schein einer Lampe und vermied im Bad jeden unnötigen Lärm. Dann stieg sie ins Bett und schlief; morgens wiederholte sich die Prozedur in umgekehrter Reihenfolge. Sie betraten gemeinsam den Frühstücksraum. Erst am Tisch sagten sie einander guten Morgen.
Es war Zeit vergangen, dachte sie. Johann war für sie vom menschgewordenen Vorwurf zu einem Neutrum geworden. Sein Geschlecht und Alter verrieten sich anhand bestimmter Geräusche und Gerüche, denen sie mit ebenso großem Gleichmut begegnete wie Haaren im Waschbecken. Sie sah Johann zu selten, um an seinen Angewohnheiten Anstoß zu nehmen. Dass sie sich selbst auf kleinem Raum so mühelos aus dem Weg gingen, hatte nichts von angestrengter Vermeidung. Eher erfreute sie sich an der perfekten Choreografie ihrer Routine. Die Selbstverständlichkeit darin ermöglichte ihnen beiden Entspannung, sodass sie nicht deswegen schwiegen, weil das Reden verfänglich wäre, sondern weil es die Schönheit des Ablaufs beeinträchtigen würde. Es war unnötig.
Es war ihrer beider Beruf geworden, sich gemeinsam sehen zu lassen und unerschütterlich zu lächeln. Sie trafen mit vielen Menschen zusammen, denen dieses Lächeln wichtig war. Johann hatte seine Kontakte mit Künstlern, Sammlern und Geschäftsfreunden gepflegt. Und auch sie hatte ihre Kontakte gepflegt. Ohne Übertreibung konnte sie sagen, dass Johanns und ihre Kontakte mehr und mehr identisch geworden waren.
Beinahe wehmütig dachte sie an ihren letzten gemeinsamen Besuch in Bayreuth, im Jahr 2009. Sie hatte sich nie für Wagner interessiert, generell empfand sie Oper als lächerlich, lediglich wegen der Orchestrierung konnte sie einige italienische ertragen. Johann dagegen ereiferte sich auch in diesem Jahr auf dem Vorplatz, dem Balkon und im Foyer – überall, wo er ein bekanntes Gesicht sah – über die neue Festspielleitung und ihre Auswahl an Regisseuren, über das Ende der Ära Wolfgang Wagner und über den allgemeinen Niedergang der Tradition. Sie blickte dazu freundlich in freundliche Gesichter und begrüßte jeden mit Namen und Anrede. Es war heiß. Sie machte sich keine Illusionen über die nächsten viereinhalb Stunden, nach denen sie nicht mehr wissen würde, wie sie auf dem schlecht gepolsterten und engen Gestühl noch sitzen sollte. Die Wolken von Eau de Toilettes und Deodorants, die vergeblich die allgemeine Transpiration zu überdecken versuchten, würden ihr das Atmen schwer machen.
Als sie durch das Foyer des Königsbaus ging, um draußen noch eine Zigarette zu rauchen, begegnete ihr der junge Niklas Schallhammer, der ihr von früheren Zusammentreffen her bekannt war. Zunächst schien er sie nicht zu erkennen,
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