Gibraltar
keiner Menschenseele reden.« Der Mann machte eine Geste, als schließe er seine Lippen ab und werfe den Schlüssel über die Schulter.
Die Schlüssel. Schon kurz nach dem Aufwachen hatte sie an jenem Morgen gespürt, dass sich etwas verändert hatte; für immer verändert. Sie war hinunter in die Küche gegangen. Zuerst fiel ihr auf, dass Bernhards Tasse nicht auf dem Tresen stand – dort, wo er morgens seinen Kaffee trank, bevor er losfuhr. Stattdessen entdeckte sie das Lederetui mit seinen Hausschlüsseln und sein BlackBerry. Es war ungewöhnlich, dass Bernhard eine solche Vergesslichkeit unterlief, also rief sie in der Bank an. Sie bekam aber lediglich eine junge Frau an den Apparat, die ihr sagte, dass Herr Milbrandt im Moment nicht zu sprechen sei. Carmen gab sich als Ehefrau zu erkennen und wies die Sekretärin darauf hin, dass es sich um eine wichtige Angelegenheit handele.
»Die Angelegenheiten hier sind mit Sicherheit noch wichtiger«, bekam sie zur Antwort; damit war das Telefonat beendet.
»Sie können sich vorstellen, wie ich gekocht habe vor Wut. Diese Überheblichkeit.«
»Tja«, machte Gudvang, als wisse er über die Gepflogenheiten vor Ort bestens Bescheid.
Als Holt sie dann gegen halb vier am Nachmittag zurückgerufen hatte, war ihr Zorn schon wieder verflogen. »Endlich«, sagte sie. »Max, Bernhard hat sein Telefon –«
»Ist er bei dir?«, hatte Holt sie brüsk unterbrochen.
»Was? Nein, wieso –«
»Carmen, sag mir die Wahrheit. Wenn er bei dir ist, dann gibst du ihn mir besser. Wir haben jetzt keine Zeit für Spielchen.«
»Bitte, ich weiß gar nicht –«
Carmen wusste nichts von Spielchen, und sie war nicht gewillt, sich von der spürbar aggressiven Stimmung Holts anstecken zu lassen.
»Und was genau war passiert?«, fragte Gudvang.
»Sie sitzen fast auf meinem Schoß «, bemerkte Carmen, worauf Gudvang sich sichtlich widerstrebend daranmachte, wieder etwas von ihr abzurücken. »Ich habe es nicht genau verstanden. Holt ist so jemand – das ist der Abteilungsleiter –, der spricht diese Geheimsprache, mit der mächtige Männer sich gern von der Wirklichkeit abschotten. Irgendwas mit Risikolimits und Junkbonds. Ich gebe zu, dass mich nicht interessierte, was das zu bedeuten haben könnte.«
»Aber inzwischen interessiert es Sie schon, oder?«
Inzwischen wusste sie in der Tat, dass Bernhard ein großes, ein riesiges Geschäft für die Bank verfolgt hatte, das sich in eine ungünstige Richtung entwickelt hatte. Wenn nur ein Bruchteil dessen stimmte, wovon ihr Holt mehr raunend als informierend berichtet hatte, dann befand sich die Bank kurz vor ihrem Zusammenbruch, es sei denn, Bernhard wurde vor Ablauf des Wochenendes gefunden. Es sei denn, jemand fand ihn.
»Aber natürlich sagte ich, dass ich nicht wüsste, wo Bernhard war, und das stimmte auch. Jedenfalls zu dem Zeitpunkt.«
Gudvang hatte sich von einer der Flugbegleiterinnen, die zwischenzeitlich zurückgekehrt war, ein neues Fläschchen Whiskey sowie eine Dose Erdnüsse bringen lassen, die er nun gierig und konzentriert aus der hohlen Handfläche in seinen Mund kippte, während er durch beständiges Nicken signalisierte, dass er Carmens Erzählung weiterhin folgte.
Carmen hatte Bernhard ein ums andere Mal auf seinem privaten Telefon anzurufen versucht, doch als es ausgeschaltet blieb, wurde ihr der Verdacht, dass sich Bernhard in ernsten Schwierigkeiten befinden musste, zur Gewissheit.
»Und wie haben Sie’s rausgefunden? Wo er ist? Haben Sie ihn orten lassen, oder was?«
»Das wäre tatsächlich eine Idee gewesen«, sagte Carmen nachdenklich. »Andererseits kann ich mir nicht vorstellen, dass er sein privates Telefon benutzt hat, wenn sogar Sie auf die Idee kommen, dass man ihn darüber …«
»Entschuldigen Sie«, unterbrach Gudvang sie, »haben Sie jetzt gerade gesagt: sogar Sie ?«
»Habe ich?«
»Hatte ich so verstanden.«
»Oh, Entschuldigung, das war natürlich nicht so … Also, wollen Sie jetzt wissen, wie ich hinter seinen Aufenthaltsort gekommen bin?« Ohne die Antwort abzuwarten, holte Carmen Bernhards BlackBerry hervor und tippte die vierstellige PIN ein. Bernhard hatte sie ihr nie verraten; dass sie dennoch dahintergekommen war, bewies einmal mehr, dass sie als Einzige eine Vorstellung von dem wahren Bernhard hatte, als eines sensiblen, liebesfähigen, gefühlvollen Mannes: Er hatte sich als Zugangsnummer Manuels Geburtsdatum ausgesucht.
»Bernhard hat auf seinem
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