Gibraltar
Nichts geschieht ohne Grund.
»Genau genommen glänzt in dem Roman also das, worum es geht, durch Abwesenheit. Was man sieht, ist das, was übrig geblieben ist. Das Hier und Jetzt. Die triste Kulisse.«
Sie waren schnell ins Gespräch gekommen. Anders gesagt: Sie hatte bemerkt, dass der Mann außerordentlich nervös war, also war es bis hierher noch nicht direkt ein Gespräch. Sie wusste nicht genau, ob der Mann ihr überhaupt zuhörte. Alle Augenblicke nestelte er an seiner Krawatte oder kramte in seinem Handgepäck.
»Es geht um ein Mädchen namens Ivory. Das ist auch der Name des Romans. Ivory hat sich den Namen selbst gegeben, ihren bürgerlichen Namen erfahren wir nicht. Für sie ist er das Symbol ihrer Sehnsucht nach einem fernen Ort, an den sie mit ihrem Vater zu gelangen hofft. Eine neue Heimat, die die verlorene ersetzt.«
»Ivory«, wiederholte der Mann zerstreut. Das Flugzeug hatte sich in Bewegung gesetzt; er atmete jetzt schwer, fast schnaufend. Seinen Ausdünstungen nach war er alkoholisiert. Sie verzichtete darauf, ihn anzusehen, doch insgeheim beschäftigte sie die Frage nach der tieferen Bewandtnis seines Hierseins. Er sah nicht aus wie ein Urlauber. Sie probierte, sich ihn auf der Strandliege eines Hotelpools vorzustellen, den krebsroten Schmerbauch viel zu spät mit Sonnenmilch gefettet, mit von Daiquiris oder Sangria beduseltem Kopf, den Weg zum Strand hinunter für den Rest des Urlaubs meidend, weil das wahre Ferienglück so viel näher, nämlich am Pool, lag. Doch sie stellte fest, dass ihr diese Vorstellung nicht ganz glücken wollte. Die kantigen, unsteten Bewegungen des Mannes passten nicht zu ihrer Vorstellung von Muße und zelebrierter Faulheit. Sie dachte: Wer checkt auf einer Urlaubsreise in einem solchen Anzug ein?
»Ivory entstammt einem böhmischen Adelsgeschlecht. Sie wissen vielleicht: Böhmen. In dem, was nach dem Ende des großen Krieges und der Monarchie von Österreich-Ungarn übrig geblieben war. Sie können sich denken, dass ein Adelstitel da kein Vorteil war. Ihre Familie hatte nach der Bodenreform 1927 ihren gesamten Besitz verloren und war verarmt. Ihre Mutter litt an einer Nervenkrankheit und war früh gestorben. Was ihr blieb, war ihr Vater. Er war Universitätsdozent für Physik und Dissident.«
»Ah so, ja.« Der Mann schien noch immer vollauf mit seiner Flugangst beschäftigt. Er suchte etwas in seiner Tasche, die er unter dem Sitz verstaut hatte. Gleichzeitig, als habe er ein dringendes Anliegen, hielt er nach der Flugbegleiterin Ausschau, deren Blicken er aber verwirrenderweise nicht zu begegnen, sondern zu entgehen suchte. Als er sicher war, nicht gesehen zu werden, zog er eine kleine Flasche hervor und trank zügig einen Schluck in immer noch geduckter Haltung.
»Blutverdünner«, sagte er verschwörerisch.
Sie lächelte und senkte ihre Stimme. »Wie haben Sie die Flasche denn an der Sicherheitskontrolle vorbeibekommen?«
Er zeigte auf seine Schuhe; sie schauderte bei dem Anblick.
Unterdessen hatte das Flugzeug seine Startposition erreicht. Es stand still, und doch lief ein Zittern von gestauter Kraft durch sein Inneres. Es gibt kein Zurück mehr, dachte Carmen. Der Mann neben ihr sah nervös an ihr vorbei aus dem Fenster und hielt die Armlehnen umklammert. Kein Zurück.
»Selbst wenn man Sie erwischt«, flüsterte sie ihm zu, »jetzt kann man Sie eh nicht mehr hinauswerfen.«
Er bemühte sich um ein Lächeln und wohl auch um Antwort, doch da heulten die Triebwerke auf, das Zittern steigerte sich zu atemloser Erregung, und in einem beherzten Spurt, als nehme es Anlauf zu einem eigentlich zu großen Sprung, erhob sich das Flugzeug am Ende der Piste und erkletterte schnaufend die Steigung gen Himmel. Noch im Aufstieg kippte es sacht über den linken Flügel und beschrieb eine leichte Kurve, sodass Carmen das Terminal des Frankfurter Flughafens sehen konnte, wie es kleiner wurde und bald ganz aus ihrem Sichtfeld verschwand. Als eine Turbulenz die Maschine schüttelte, sodass die Sitze geräuschvoll in ihren Verankerungen erzitterten, stieß der Mann neben ihr ein Wimmern aus.
»Sie müssen keine Angst haben, diese Turbulenzen sind ganz normal.«
Er blieb ohne Antwort. Stattdessen starrte er in das tote Auge des Monitors vor ihm.
»Hören Sie, ich erzähle weiter.«
»Ja«, dies fast ohne Stimme, »sicher.«
»Ivory und ihr Vater müssen über Nacht aus der Tschechoslowakei fliehen, nachdem er eine Petition unterschrieben hat für den Ausstieg aus dem
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