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Gibraltar

Gibraltar

Titel: Gibraltar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Reh
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Warschauer Pakt.«
    Sie hatten die Wolkendecke erreicht. Die Turbulenzen nahmen hier noch einmal zu. Undurchdringliche Nebel zogen am Fenster vorbei. Der Mann nickte ihr zu, höflich bemüht, ihr zuzuhören. Er bot ein beklagenswertes Bild; die Panik schien seine Nerven fest im Griff zu haben. Schweiß tropfte von seinem Kinn.
    »Von da an sind die beiden heimatlos. Sie kommen nach Deutschland, wo dem Vater eine Stelle an der Frankfurter Universität versprochen war, doch als er sie antreten will, kennt ihn dort keiner mehr. Niemand bietet ihm Hilfe an, die Behörden wollen die beiden sogar schnellstmöglich wieder loswerden. Aber zu Hause in Prag würden ihn die Kommunisten einsperren, vermutlich foltern. Der Vater beschließt also, mit der kleinen Ivory zu fliehen. Und so beginnt eine Odyssee, die drei Jahre andauert und in der ihr Vater alles für Ivory ist: das Zentrum jener Welt, die sie sich in ihrer Fantasie mit nach Deutschland gebracht hat.«
    Sie brach ab. Es war eigentlich nicht nötig, dachte sie, ihm den Inhalt derartig detailliert zu erzählen; er sah nicht so aus, als würde er sich aus Literatur etwas machen. Allerdings schien durch ihre Erzählung seine Aufregung ein wenig verflogen; die Turbulenzen hatten sich gelegt, vereinzelt brach sich jetzt lichter Himmel aus dem ortlosen Grau der Wolken Bahn, und der Mann hatte bereits genug Mut gefasst, um verstohlen ihr Dekolleté zu mustern.
    »Ivory wächst in der deutschen Provinz auf, wo der Vater sich als Dorf- und Privatlehrer verdingt. Die Familie hat sich das Deutsche immer bewahrt, so dass sich Ivory, wenn auch mit Akzent, gut verständigen kann. Trotzdem ist sie ein einzelgängerisches, scheues Kind. Was immer sie tut, sie wird von den anderen nur als ein Freak aus dem Osten gesehen, der die falschen Wörter benutzt, die falschen Schuhe trägt und die falschen Glanzbilder sammelt.«
    Natürlich bemerkte sie, dass sie ihm nicht mehr den Inhalt ihres Romans erzählte, sondern den ihres Lebens; dabei hatte sie genau das vermeiden wollen.
    »Das klingt ziemlich … traurig«, sagte der Mann. Es war, wie Carmen feststellte, sein erster richtiger Satz. Er roch jetzt ein wenig, doch Carmen fühlte sich nicht abgestoßen. Sie war froh, dass es ihm besser ging, und vielleicht hatte sie sogar ein wenig dazu beigetragen.
    Das Licht in der Kabine wurde heller, zum Zeichen dafür, dass nun die Gurte geöffnet werden konnten. Beinahe augenblicklich wurde der Vorhang am Ende des Ganges beiseitegeschoben, und die Flugbegleiterinnen begannen, den Servierwagen durch den Gang zu schieben. Sofort veränderte sich die Stimmung in der Kabine, die allgemeine Anspannung schien sich zu lösen, die gemurmelten Gespräche, die während der Turbulenzen ins Stocken geraten waren, wurden wieder aufgenommen.
    Sie löste den Gurt und versuchte, ihre Beine ein wenig auszustrecken. Eine der Flugbegleiterinnen trat heran; Carmen bestellte ein Glas Champagner und ein kleines Fläschchen San Pellegrino.
    »Darf ich Sie zu einem Glas einladen?«, fragte sie den Mann.
    »Das geht aufs Haus«, warf die Flugbegleiterin lächelnd ein.
    »Dann – einen Whiskey«, sagte der Mann mit einem gequälten Lächeln. Er versuchte, fand Carmen, eine würdige Figur zu machen, auch wenn es ihm nicht ganz gelang. Immerhin schien er recht nett zu sein.
    »Wollen Sie nach Marbella?«, fragte sie ihn zwanglos. Er nickte überrascht, und Carmen hakte nach: »Urlaub?«
    »Nein. Nein, ich hab«, er lächelte zögerlich und legte dann den bereits geleerten Becher noch einmal an die Lippen, um durch ruckartiges Zurückwerfen des Kopfes noch den letzten Tropfen in seinen Rachen zu befördern, »ich hab da unten ein paar Probleme.«
    »Entschuldigen Sie. Ich wollte nicht indiskret sein –«
    »Oh, ich kann Ihnen das ruhig erzählen, ist nichts weiter dabei. Ich hatte ein Restaurant. Gudvang, übrigens. Helmut Gudvang.«
    »Carmen Sudek. Ich freue mich, Sie kennenzulernen.«
    »Eine Bar, um genau zu sein. In Marbella.   El Suabo . Das heißt –«
    »Der Schwabe, ich weiß. Ich spreche Spanisch. Unter anderem.«
    »Donnerwetter. Also, die Bar ist in der Altstadt, gleich in der Nähe vom Parque Almeda.«
    »Was ist passiert?«
    »Passiert?« Der Mann sah an ihr vorbei nach draußen, konnte für den Moment wohl nichts Beunruhigendes feststellen und musste somit, wohl oder übel, weiterhin entspannt bleiben. Unter dem langsam aufreißenden Wolkenschleier konnte Carmen nun das aufblühende Grün des

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