Gibraltar
unter Ihren Fingern zerfällt wie trockener Sand, sehe ich, dass alles vergebens war. Ich hätte gern ein Erbe, das können Sie mir glauben: Ein Imperium, das ist schließlich etwas. Das Dumme ist nur, dass man es nicht mit hinübernehmen kann. Zu dumm.
Ich weiß, dass hier das Ende aller Strecken wartet. Dass ich ins Nichts fallen werde. Alles, was zählte, zählt plötzlich nicht mehr. Dort wo ich hingehe, gibt es keine Zahlen.
Ihnen ist nicht klar, dass etwas von mir in diesen Mauern steckt, zwischen denen Sie gerade stehen. Niemandem ist das klar. Das Geld, mit dem Sie Ihren Anzug gekauft haben, ist irgendwann einmal durch meine Hände gegangen.
Ich habe keine Memoiren geschrieben. Es ist kein Verlust für die Welt, was meinen Sie, Feldberg? Auch die Saurier haben keine Memoiren hinterlassen, und die haben immerhin fast zweihundert Millionen Jahre zugebracht auf der Welt, nicht bloß ein paar zehntausend wie wir. Was würde ich auch hineinschreiben in so ein Buch? Ich habe gelebt . Das könnten Sie aufschreiben, Feldberg, es erscheint mir wichtig und interessant: Ich habe gelebt. Was soll man sonst noch sagen?
Alles ist jetzt aufgehoben. Was ich getan habe, Sie, auch was Helene oder Thomas getan haben, ist aufgehoben. Ich wünschte, Sie könnten das sehen, ihr alle. Ein Klaffen, ein Spalt in der Mitte der Zeit, alles und nichts zugleich, der Logenplatz der Verdammnis, der Gedankenblitz der Ewigkeit. Dass Sie es besser konnten als ich, stelle ich infrage, und glauben Sie mir: Ich kann es besser einschätzen von da, wo ich jetzt bin.
2
Ich habe es nicht gewollt, zu allem Anfang. Ich fühlte mich zu etwas anderem bestellt. Habe ich dir jemals erzählt, dass ich Arzt werden wollte, Thomas? Es kann sein, dass ich es dir mal erzählt habe. Ich weiß nicht, warum. Das heißt, jetzt weiß ich es, ich sehe die Gründe verknäuelt auf einer winzigen Zelle der Innenseite meiner Großhirnrinde, doch ich könnte es nicht in Worte fassen, und alles Weltliche ist in Worten. Ich wollte Arzt werden, weil mein Herz mich dahin drängte. Chirurg in einer großen Klinik, wie dieser hier. Ich wollte Menschen helfen. Mit Zahlen war ich nie besonders gut, ich konnte zwei und zwei nicht zusammenzählen. Ja wirklich, es würde dich überraschen. Zahlen sind entsetzlich langweilig. Für mich müssen Zahlen etwas repräsentieren, das ich interessant finde, ich kann sie nicht als etwas sehen, mit dem man bloß rechnet. Aber ich hatte immer einen Blick für Leute, die das können. Das war mein eigentliches Talent: Menschen nach ihren Fähigkeiten zu beurteilen und für mich zu gewinnen. Sie woanders abzuwerben, wenn es sein musste. Und ich habe immer darauf geachtet, dass es Leute waren, denen ich vertrauen konnte. Du weißt das, Thomas. Es ist wichtig, dass du das weißt.
Als mein Bruder Erich starb, war das mit der Medizin allerdings lange vorbei. Du weißt, er kam bei einem Autounfall um. Auf gerader Strecke. Es war dunkel, aber das war nicht der Grund. Er hatte getrunken. Er saß in seinem Alfa Romeo Cabrio, natürlich fuhr er viel zu schnell. Das Ganze wird noch absurder, wenn man bedenkt, dass das während der Ölkrise passierte. Sie hatten gerade neue Geschwindigkeitsbegrenzungen eingeführt, 100 auf Bundesstraßen. Mein Bruder muss etwa 160 gefahren sein, daran kann man sehen, wie genau er es mit den Regeln nahm.
Erich war der Älteste. Er war begeistert davon, ins Geschäft einzusteigen, und ich ließ ihm gerne den Vortritt. Du kannst dir vielleicht unsere Erziehung vorstellen, preußisch-protestantisch, mein Vater ging zum Lachen in den Tresorraum, und auch das nur kurz. Ich interessierte mich überhaupt nicht für das Geschäftliche. Dafür interessierte ich mich für mein Klavier, die klassische Musik, Gedichte von Ringelnatz, Leonardos anatomische Zeichnungen. Feldberg, Sie wissen doch von meiner großen Leidenschaft für Leonardo, obgleich es mich dann ja später eher zur klassischen Moderne hingezogen hat. Aber die anatomischen Skizzen: Ich sehe mich als Jugendlichen, wie ich im ausgehenden Licht über den Repros sitze und lerne, den menschlichen Körper zu lieben. Überhaupt den ganzen Menschen: das Wunder, das er ist, Thomas. Der ganze Mensch. Alle Menschen.
Ich trug es meinem Vater nicht nach, dass er in erster Linie auf Erich zählte. Dass er mich verloren gegeben hat. Ich will nicht sagen, dass ich auch dich verloren gegeben habe, Thomas. Aber es ist jetzt nicht die Zeit für falsche Beschönigungen. Ich habe
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