Gideon Crew 01 - Mission - Spiel auf Zeit
entschied sich für Cecil Taylors
Air
.
Er nahm vom Nachttisch eine dicke braune Aktenmappe – die komplette Sammlung der Röntgenaufnahmen aus der Notaufnahme, von Kopf bis Fuß, auf die er als Wus »Lebensgefährte« Anspruch hatte. Er zog den Schirm von der Lampe, hielt das erste Röntgenbild an die Glühbirne und untersuchte es Zentimeter für Zentimeter mit der Lupe. Der Schädel, der obere Brustbereich und die Arme waren in Ordnung, aber als er zur unteren Bauchgegend gelangte, wäre ihm fast das Herz stehengeblieben: Da war ein kleiner weißer Punkt, möglicherweise aus Metall. Gideon griff nach der Lupe, untersuchte den Punkt – und war sofort enttäuscht. Es handelte sich in der Tat um ein Metallfragment, war aber wohl nur ein verbogenes Stück, das beim Autounfall in den Körper eingedrungen war. Es war weder ein Mikrochip noch ein winziger Metallbehälter oder ein Spionagegerät.
Weder im Magen noch im Darm befand sich irgendeine Art Behälter, Ballon oder Speichergerät. Auch im Rektum nichts.
Gideon bekam einen Schock, als er sich die Röntgenaufnahmen der Beine anschaute. Mehr als ein Dutzend Metallstücke waren darin eingeschlossen – alle waren als unregelmäßige weiße Punkte zu erkennen, hinzu kamen kleine graue Stückchen, bei denen es sich vermutlich um Fragmente aus Glas oder Plastik handelte. Die Röntgenbilder waren aus mehreren Richtungen gemacht worden, und deshalb bekam er eine ungefähre Vorstellung von der Form der Fragmente, aber keines ähnelte auch nur entfernt einem Computerchip, einem winzigen Behältnis, einer Kapsel oder einem Magnet- oder Laserspeichergerät.
Vor seinem inneren Auge erschien ein Bild des professoralen Mannes, wie er die Rolltreppe herunterkam, verängstigt sich umblickend, schmächtig, ernsthaft – und couragiert. Erstmals ging Gideon auf, welch großes Risiko Wu eingegangen war. Warum? Es wäre ein Wunder, wenn der Mann jemals wieder gehen konnte. Wenn er überhaupt überlebte. Als Gideon das Krankenhaus verlassen hatte, lag Wu immer noch im Koma. Die Ärzte mussten ein Loch in seinen Schädel bohren, um den Druck zu verringern. Gideon rief sich in Erinnerung, dass es kein Unfall gewesen war, sondern ein Mordversuch. Nein, weil ein Taxifahrer und ein halbes Dutzend Passanten umgekommen waren, handelte es sich um regelrechten Mord – Massenmord.
Er schüttelte den Gedanken ab, steckte die Röntgenaufnahmen in die braune Mappe zurück, erhob sich und ging zum Fenster. Es war später Nachmittag, Gideon hatte den ganzen Tag gearbeitet. Die Sonne ging bereits unter, die langen gelben Sonnenstrahlen fielen auf die 51. Straße, die Fußgänger warfen schmale Schatten.
Er war in eine Sackgasse geraten, so sah es jedenfalls aus. Was nun?
Sein Magen knurrte. Es war höchste Zeit, ihm etwas anderes als Kaffee anzubieten. Etwas Gutes, Festes. Er griff zum Telefon, wählte den Zimmerservice und gab eine Bestellung über zwei Dutzend rohe Austern in halber Schale auf.
19
Der Polizei-Schrottplatz lag am Harlem River in der South Bronx, im Schatten der Willis Avenue Bridge. Gideon stieg aus dem Taxi und stand mitten in einer düsteren Gegend mit Lagerhäusern und Gewerbegrundstücken voll alter Eisenbahnwaggons, ausrangierter Schulbusse und rostender Container. Vom Fluss wehte ein Gestank nach Unrat und toten Muscheln herüber, und das Rauschen des abendlichen Stoßverkehrs auf dem Major Deegan Expressway summte in der Luft wie ein Bienenstock. Gideon hatte mal in einer Gegend gewohnt, die der hier ähnelte – in der letzten in einer Reihe zunehmend ärmlicherer Behausungen, in denen er mit seiner Mutter gelebt hatte. Selbst der Geruch war ihm vertraut. Es war ein Gefühl, das ihn ungeheuer deprimierte.
Ein Maschendrahtzaun mit Stacheldraht obendrauf umgab das Gelände, das an der Vorderseite von einem Rolltor neben einem Wachhaus begrenzt wurde. Hinter dem Zaun befand sich ein fast leerer, von abgestorbenen Giftsumachsträuchern gesäumter Parkplatz, hinter dem sich ein langes Lagerhaus erstreckte. Hinter diesem und zur Rechten lag ein Schrottplatz voller gepresster und gestapelter Autos.
Gideon schlenderte auf das Wachhaus zu. Hinter den Plastikfenstern saß ein dunkelhäutiger Polizist und las in einem Buch. Als Gideon sich näherte, schob er das straßenseitige Seitenfenster mit seiner kräftigen, mit dicken schwarzen Härchen bedeckten Hand auf. »Ja?«
»Hallo«, sagte Gideon. »Können Sie mir vielleicht helfen?«
»Wobei?« Der Polizist steckte seine
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