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Giebelschatten

Titel: Giebelschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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und genoß den Moment, als sich ihre Lippen berührten.
    Später wußte keiner von ihnen zu sagen, wie lange sie so dagesessen hatten, oben auf dem Giebel, hoch über der Stadt, Hand in Hand und verbunden durch etwas, das sie beide nicht verstanden, während das letzte Licht der Abendsonne einen glühenden Kranz um ihre Körper legte.
    Schließlich war es Martin, der sich langsam von ihr löste. Als sie die Augen öffnete, erschrak sie. Tiefe Sorgenfalten hatten sich in seine Stirn gegraben.
    »Was ist los?« fragte sie.
    Erst glaubte sie, er hätte irgend etwas gehört, aber dann sagte er: »Riechst du das auch?«
    Verwirrt sog sie die Luft ein und versucht zu verstehen, was er meinte. Und, ja, da war etwas, ein ganz leichter Geruch von – Feuer!
    Sie sprangen beide gleichzeitig auf, rutschten die Schräge hinunter und kamen nebeneinander auf einer moosbedeckten Ebene aus Schieferplatten zum Stehen.
    »Das kommt von da vorne«, meinte Martin, zeigte nach rechts und rannte los. Gwen folgte ihm.
    Sie liefen einige Schritte, als sich das Dach vor ihnen plötzlich teilte. Eine Schlucht schnitt an dieser Stelle durch das verschachtelte Gebirge der Giebel. Auf der gegenüberliegenden Seite sahen sie mehrere Reihen von Fenstern. Hinter einem davon glühte flackernder Lichtschein. Die Scheibe war halb geöffnet, und dünner, grauer Rausch stieg in den Himmel.
    »Moment«, entfuhr es Gwen, »wenn das der Westflügel ist, dann ist das –«
    »Mein Zimmer!« entfuhr es Martin.
    Und dann sahen sie eine Gestalt vor dem lodernden Glühen, eine schwarze Silhouette mit hocherhobenen Armen, die sich schnell hin und her bewegte, fast so als tanze sie einen wilden Freudentanz in den Flammen.
    Beide warfen sich gleichzeitig herum und liefen so schnell sie konnten, sprangen zurück durch die Dachluke und in die Dunkelheit darunter.
    Gwen hatte das Gefühl, als sitze die unheimliche Gestalt geradewegs in ihrem Nacken, und schlagartig kehrte die Erinnerung an ihren Traum zurück. Sie ahnte längst, wen sie dort unten, in Martins brennendem Zimmer, gesehen hatten.
     
    Bis sie den verlassenen Dienstbotentrakt des Nordfügels, das Treppenhaus und weitere Flure und Korridore auf dem Weg zu Martins Zimmer durchquert hatten, vergingen scheinbar endlose Minuten, und als sie ihr Ziel schließlich erreichten, hatte Flagg das Feuer bereits unter Kontrolle.
    Jetzt, bei näherem Hinsehen, erwies sich das, was von draußen wie ein loderndes Inferno ausgesehen hatte, als Schwelbrand von mittlerer Größe, den der Butler mit wenigen Eimern Wasser gelöscht hatte.
    Auch ihre Eltern waren auf dem Flur erschienen – Herodes lag wie immer auf den Schultern der Lady –, und Nicole hüpfte aufgeregt hin und her.
    »Wo ist Miranda?« fragte Gwen.
    »Und Christopher?« fügte Martin hinzu.
    Nicole sprang ihnen entgegen. »Miranda schläft. Schon den ganzen Nachmittag. Ich glaube, sie ist krank.«
    Ines, mittlerweile ebenfalls eingetroffen und wie alle anderen nur mit ihrem schlecht sitzenden Morgenmantel bekleidet, hatte die Worte der Kleinen mitangehört. Sofort machte sich Sorge auf ihrem Gesicht breit.
    »Das werde ich mir mal ansehen«, verkündete sie, raffte den Mantel zusammen und nahm Nicole bei der Hand.
    Erst jetzt schaltete sich Gwens Mutter ein. »Wie konnte das geschehen?« keifte sie aufgeregt. Gleichzeitig bemerkte sie, daß Gwen eine von Martins Hosen trug. »Und was, um Himmels Willen, hat das zu bedeuten?«
    Gwen achtete nicht auf ihre Worte. Statt dessen drängte sie an Flagg vorbei in das verräucherte Zimmer. Offenbar war der Brand von Martins kleinem Schreibtisch ausgegangen, denn dessen Holzplatte war schwarz und angekohlt. Alles im Raum war überzogen von einer fettigen, hauchdünnen Rußschicht.
    »Flagg«, wandte Gwen sich an den Butler, »haben Sie Christopher gesehen?«
    Der Butler nickte. Sein langes Knochengesicht geriet auf dem dünnen Hals in pendelnde Bewegung. »Vor wenigen Minuten, Mylady. Er war es, der mich von dem Feuer unterrichtet hat.«
    Gwen warf Martin einen kurzen Blick zu, dann fragte sie: »Wo ist er jetzt?«
    »Das, Mylady, weiß ich leider nicht«, antwortete Flagg.
    Im gleichen Moment zwängte sich ihre Mutter durch die Tür und stieß den Butler beiseite. »Ich verlange eine Erklärung«, zeterte sie.
    »Warum trägst du eine Hose, mein Kind? Und wo hast du dich mit Martin herumgetrieben?«
    Gwen seufzte. Sie machte sich bereit für ein langes Gespräch voller Lügen.
     
    »Großartig«, sagte die

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