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Giebelschatten

Titel: Giebelschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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etwas Besonderes?«
    Ihr Vater zog an seiner Zigarre. »Hast du Martin heute schon gesehen?«
    Sie nickte überrascht. »Beim Frühstück.«
    »So«, stellte der Lord knapp fest.
    »Warum?« erkundigte sie sich. »Ist irgendwas mit ihm? Wegen des Feuers? Ich dachte, wir hätten heute nacht schon klargestellt, daß er nichts damit zu tun hat.«
    Ihr Vater paffte nachdenklich eine Rauchwolke aus. »Die Beweislage hat sich geändert.«
    Die Beweislage! Großer Gott, was ging hier vor? Dann sah sie wieder Christopher an, und im gleichen Augenblick überkam sie eine böse Ahnung.
    »Was hat er dir erzählt?« schnappte sie. »Ich hoffe doch, du glaubst ihm kein Wort!«
    »Aber, aber«, meinte ihr Vater, »kein Grund, sich so zu ereifern – oder etwa doch?« setzte er lauernd hinzu.
    Christopher sagte kein Wort. Nur seine Augen – diese schrecklichen, dunklen Augen – schienen sich wie Pfeile in ihren Geist zu bohren. Plötzlich fühlte sie sich nackt und schutzlos.
    Abrupt fuhr sie herum und wandte sich zur Tür. »Ich hole Martin«, sagte sie, dann glitt sie schon hinaus auf den Korridor. Erleichtert atmete sie auf. Nur der Gedanke an Martin und an das, was Christopher über ihn zusammengelogen haben mochte, schürte weiterhin ihren Zorn.
    Als sie fünf Minuten später gemeinsam mit Martin zurückkehrte, servierte Flagg ihrem Vater Tee. Stärker noch als zuvor verspürte sie eine unangenehme Gerichtsatmosphäre, mit ihrem Vater, Christopher und dem Butler als Vertreter der Anklage.
    »Martin«, begann der Lord und lehnte sich in seinem Sessel zurück, »wie du vielleicht weißt, verschwinden seit geraumer Zeit Zigarren aus meinem Besitz.«
    Gwen wollte auffahren, aber als Martin sie ansah, beruhigte sie sich. Er schien das groteske Spektakel mit sichtbarer Ruhe hinzunehmen.
    »Woher sollte ich das wissen?« fragte er ernsthaft.
    »Christopher hier meint beobachtet zu haben, wie du in deinem Zimmer einige davon geraucht hast.«
    Martin würdigte den anderen Jungen mit keinem Blick. »Er lügt«, erwiderte er nur.
    »Nun«, fuhr Gwens Vater fort, »das möchte ich bezweifeln. Denn immerhin gab es gestern einen ungeklärten Zwischenfall, und Flagg hat in der Asche eine Zigarrenspitze gefunden. Von einer Zigarre meiner Marke.«
    Gwen horchte auf. Das war ihr neu. Sie sah den Butler an, aber sein langes Gesicht blieb starr wie eine Totenmaske.
    »Das ist doch Unsinn«, rief sie, erkannte aber noch in der gleichen Sekunde, daß dies ein Fehler war.
    Ihr Vater sah sie ernst an. »Ich kann durchaus verstehen, Liebes, daß du Martin verteidigen möchtest. Aber wir wollen nicht allzuviel Wirbel um die ganze Angelegenheit machen. Und du weißt, Strafe muß sein.« Er wandte sich an Martin. »Ich fürchte, du wirst an dem Ball am nächsten Samstag nicht teilnehmen können, mein Junge.«
    Gwens Magen zog sich zusammen. An sich wäre dies alles andere als eine schlimme Strafe gewesen, aber ausgerechnet für diese Feier hatte sie Martin gestern nacht nach dem Feuer ihre Begleitung versprochen. Zum ersten Mal wären sie als Paar auf einem Ball erschienen. Zudem blieb die Tatsache, daß diese absurde Verurteilung auf böswilligen Lügen beruhte.
    »Dann bleibe ich auch hier«, entfuhr es ihr zornig.
    »Ganz wie du willst«, sagte ihr Vater.
    Christophers Miene blieb ernst, nur in seinen Augen glaubte sie teuflische Heiterkeit zu erkennen. Was für ein Bastard! Erstmals würde er allein mit ihren Eltern auf einen Empfang gehen, und er würde gewiß schnell im Mittelpunkt stehen und viele wichtige Leute kennenlernen. So, wie er es zweifellos geplant hatte.
    Gott, wie minutiös er all das eingefädelt hatte! Wie groß mußte sein Triumph sein!
    Christopher aber verzog das Gesicht zu einer kläglichen Grimasse. »Lord Muybridge?« begann er vorsichtig.
    »Ja, mein Sohn?«
    Der Junge lächelte bescheiden. »Obwohl ich natürlich nur meine Pflicht getan habe, indem ich Ihnen das, was ich weiß, berichtet habe, war es Martin gegenüber unfair. Man verrät einen Freund nicht.«
    Freund! Du lieber Himmel…
    »Deshalb werde auch ich am Samstag auf den Ball verzichten und Zuhause bleiben.«
    Drei überraschte Gesichter starrten ihn an. Nur Flaggs Ausdruck blieb emotionslos wie immer.
    Ihr Vater fing sich als erster und verfiel in seinen üblichen Gleichmut.
    »So soll es denn sein«, meinte er dumpf. Das Thema war damit für ihn beendet, und er verschwand hinter den aufgeschlagenen Seiten einer Zeitung.
    Gwen und Martin sahen sich an. Ein

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