Giebelschatten
Gewebefrau. Ihre Mundwinkel formten ein Lächeln, aber ihr Körper blieb weiterhin unbewegt wie Stein.
Christopher war stolz auf das, was er vollbracht hatte. Das Lob der Erscheinung erfüllte ihn mit Euphorie.
»Aber wird man dich nicht verdächtigen?« fragte die Gestalt.
Hastig schüttelte er den Kopf. »O nein«, beeilte er sich zu versichern. »Miranda wird niemandem etwas von unserem kleinen Ausflug erzählen, und was das Feuer angeht: Der Verdacht wird auf Martin fallen, dafür werde ich sorgen.«
»Sehr gut«, erwiderte sie. »Sie alle wollen dir nur Böses, aber du bist ein tapferer junger Mann. Ich sehe, du weißt dich gegen ihre Intrigen zu wehren.«
»Das weiß ich allerdings«, sagte er und lächelte.
Die Gewebefrau verstummte und schien ihn mit ihren herrlichen Augen zu mustern. Für einen ganz kurzen Augenblick glaubte er, ihren Blick fast körperlich auf seiner Haut zu spüren, wie das Streichern sanfter Finger. Er wußte, daß sie bis tief in sein Innerstes schauen konnte.
Ihr Körper stand noch genauso da wie vor zwei Nächten, sternförmig umgeben von Fäden und Spinnweben, und er fragte sich, ob sie wohl jemals das Bedürfnis verspürte zu essen, sich hinzusetzen oder einfach nur umherzugehen.
»Geh jetzt«, sagte sie. Ihre Stimme klang längst nicht mehr so alt und trocken wie bei ihrer ersten Begegnung. »Geh und verliere nicht den Mut. Und denke daran: In Gedanken bin ich immer bei dir.« Sie lächelte noch einmal, dann schloß sie die Augen. Die Audienz war beendet.
Christopher verließ voller Übermut die Dachkammer, verweilte noch einige Minuten auf dem dunklen Speicher, dann kletterte er die Treppe herab, durchquerte den langen Korridor, öffnete die Tür zum Treppenhaus – und erstarrte!
Vor ihm stand Flagg.
Ein schmaler Streifen Mondlicht fiel durch ein Fenster quer über das Gesicht des Butlers. Er blickte ihn aus seinen schmalen, tiefliegenden Augen an, und stärker als je zuvor erinnerte er Christopher an einen lebenden Leichnam. Das Treppenhaus war voller Schatten, und drückende, lebendige Finsternis schien den Mann zu umwogen wie schwarzer Nebel.
Sekundenlang kreuzten sich ihre Blicke, Christopher im Rahmen der halbgeöffneten Tür, und Flagg nur einen Schritt von ihm entfernt auf dem Treppenabsatz.
Dann öffnete der Butler langsam den Mund. »Sie wurden vermißt, Sir«, sagte er steif.
Christopher erwachte aus seiner Erstarrung, huschte durch die Tür ins Treppenhaus und schloß sie hinter sich.
»Tatsächlich?« fragte er knapp. Dann ging er an dem Butler vorbei die Treppe hinauf. »Sie verzeihen«, sagte er, »es ist spät.«
Damit ließ er Flagg stehen und stieg weiter nach oben. Er bemühte sich, so selbstsicher wie möglich zu wirken, als er eilig im Korridor der nächsten Etage verschwand. Vorher aber warf er aus den Augenwinkeln noch einen kurzen Blick zurück.
Ein eisiger Schauder kroch über seinen Rücken.
War es wirklich ein Lächeln, das er im fahlen Mondlicht auf den Lippen des Butlers sah?
»Und du bist dir ganz sicher?« fragte der Lord am nächsten Morgen.
Christopher nickte. Listig fügte er hinzu: »Ich habe selbst die Zigarren auf Martins Schreibtisch gesehen. Ich glaube, es war die gleiche Marke, die auch Sie rauchen.«
Lord Muybridge nahm den übelriechenden Stengel aus dem Mund und paffte eine Wolke in Christophers Richtung.
»Ah«, sagte er, »so ist das. Ich denke, ich verstehe.«
Christopher wollte noch etwas sagen, aber im gleichen Moment kam Gwen in die Bibliothek. Sie sah großartig aus, wie immer; nur zwei schmale Ringe, ein Hauch von Müdigkeit, lagen um ihre Augen.
Christopher und ihr Vater blickten ihr entgegen, und gleichzeitig begriff sie, daß sie keinen ungünstigeren Moment hätte wählen können. Dunkle Vorboten weiterer Diskussionen lagen in der Luft.
»Guten Morgen«, sagte sie und sah dabei nur ihren Vater an, der, wie oft um diese Zeit, in seinem ledernen Ohrensessel saß und rauchte. Christopher hockte an seiner Seite auf einem Stuhl wie ein Faktotum. So sehr es sie interessiert hätte, wo er sich zum Zeitpunkt des nächtlichen Brandes herumgetrieben hatte, so wenig Lust hatte sie in diesem Augenblick auf eine Konfrontation. Alles zu seiner Zeit.
Wie üblich nickte ihr Vater ihr nur stumm zu. Überflüssige Höflichkeiten hatte er sich bereits vor Jahrzehnten abgewöhnt.
Nachdem die beiden sie sekundenlang wie Verschwörer angestarrt hatten, fragte sie mit einem Anflug von Ärger in der Stimme: »Gibt es
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