Giebelschatten
Dutzend Fragen wirbelte in ihren Köpfen. Christopher hatte alle Trümpfe in der Hand gehabt. Wenn er freiwillig auf ein Ereignis wie den Ball verzichtete, was gab es dann, daß ihn hier im Haus hielt, allein mit den anderen?
Der letzte Gedanke stach aus ihren Überlegungen wie die scharfe Spitze eines Eisberges. Allein mit den anderen…
Wie an jedem Samstagabend würde Ines ihre alte Mutter auf dem Land besuchen, und niemand erwartete sie vor Sonntagvormittag zurück. Das bedeutete, daß nur Gwen, Martin und die beiden Kleinen mit Christopher im Haus sein würden. Und Flagg.
Gwens Körper überzog sich mit einer Gänsehaut. Sie fühlte sich kalt und elend. Was, zum Teufel, hatte Christopher vor?
Am Morgen des folgenden Donnerstags erschien Mister Pimlott erstmals wieder mit Mable zum Unterricht. Die dackelgroße Albinoratte schnüffelte behäbig auf dem Lehrerpult umher, tat sich an den Seiten eines altgriechischen Wörterbuches gütlich und ließ sich schließlich plump auf ihren Bauch fallen. So schlief sie für die nächsten Stunden tief und fest – womit das Kapitel ihrer scheinbaren Krankheit vorerst zu den Akten gelegt wurde.
Irgendwann zwischen Elf und Zwölf erwachte sie wieder – Gwen und Martin schrieben gerade einen katastrophalen Vokabeltest –, spie Speichel und andere Flüssigkeiten auf die Tischplatte und ließ sich mit einem Platschen von der Kante des Pults auf den Boden fallen.
Pimlott stürzte sofort vor, hob sie auf den Arm und verbrachte mehrere Minuten damit, das heißgeliebte Scheusal auf eventuelle Knochenbrüche abzutasten, ein Zeitraum, den die beiden geplagten Schüler zu ausgiebiger Erörterung ihrer Vokabelprobleme nutzten.
Schließlich schien der gegrämte Lehrer sich von Mables Unversehrtheit überzeugt zu haben, setzte sie aber nicht wieder auf sein Pult, sondern ließ sie mit den Worten »Du sollst deinen Willen ja haben, mein Schatz« sanft zu Boden gleiten. Hier begann die Kreatur taumelnd hin und her zu kriechen, näherte sich einmal sogar Gwens Fuß, um dann die entlegeneren Regionen des Schulzimmers zu erkunden.
Der zweite Akt des Dramas begann etwa eine dreiviertel Stunde später. Pimlott hatte gerade die Vokabelblätter eingesammelt, als ihm plötzlich bewußt wurde, daß er schon seit über dreißig Minuten kein Lebenszeichen seines Haustiers vernommen hatte. Entsetzt ließ er die Unterlagen auf sein Pult und sich selbst auf den Boden fallen. Auf allen Vieren folgte er der feuchten Spuren der Ratte durchs Zimmer, wobei er hin und wieder leise Rufe ausstieß wie »Mable, Mable, Mable!« oder »Komm zu Daddy!«.
Spaßeshalber beteiligten sich Gwen und Martin an der Suche, bis Pimlott schließlich, einem Herzinfarkt nahe, feststellte, daß die Tür des Raumes einen Spaltbreit offen stand. Sollte Mable etwa…? Eine andere Möglichkeit schien es nicht zu geben.
So wurde die Fahndung nach der Ratte erst auf den Flur und die umliegenden Räume, schließlich auf das ganze Erdgeschoß ausgeweitet.
Zwei Stunden später war Mable noch immer verschwunden, und es wurde beschlossen, die Suche abzubrechen und darauf zu vertrauen, daß sie sich beim ersten Hunger ganz von selbst bemerkbar machen würde. Pimlott war untröstlich und mußte unter viel guten Zureden nach Hause geschickt werden.
Am späten Nachmittag saßen Gwen und Martin in ihrem Zimmer und blickten Hand in Hand aus dem Fenster auf den Vorplatz und die gegenüberliegende Häuserfront. Beide dachten an ihr Abenteuer auf dem Dach, an das Bild der Stadt von oben und an das, was zwischen ihnen passiert war. Sowohl Gwen als auch Martin widerstrebte es, das Geschehene zu zerreden.
»Was glaubst du, warum er es getan hat?« fragte Gwen schließlich, um ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken.
Martin fuhr irritiert aus seinen Überlegungen auf. »Christopher?«
Sie nickte, ließ seine Hand los und stand auf. Unruhig begann sie im Zimmer auf und ab zu gehen.
»Ich schätze, er will mich ausstechen«, meinte er.
»Bei wem?«
»Bei deinen Eltern.« Er lächelte. »Und bei dir.«
Wieder nickte sie, schüttelte aber gleich darauf den Kopf. »Wie kann er glauben –«
»Er ist verrückt.«
Gwen sah ihn eine Weile schweigend an. »Glaubst du das wirklich? Daß er verrückt ist, krank, meine ich.«
Martin schüttelte den Kopf. »Das war nur so dahergesagt. Außerdem –«
»Ich weiß«, ging sie dazwischen. »Aber denkst du, daß er es vielleicht wirklich sein könnte?«
Er sah ihr sekundenlang
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