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Giebelschatten

Titel: Giebelschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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unentschlossen in die Augen, dann wanderte sein Blick zurück zum Fenster. »Keine Ahnung. Sicher ist er seltsam, anscheinend sogar gefährlich, aber verrückt? Ich weiß nicht. Laufen Irre nicht sabbernd und grimassenschneidend durch die Gegend?«
    Sie schenkte ihm ein tadelndes Lächeln. »Meinst du, wir hätten es meinen Eltern sagen sollen?«
    »Wenn, dann hätten wir es letzte Nacht tun müssen. Heute ist es dazu zu spät. Sie werden denken, ich wolle die Schuld auf ihn abwälzen.«
    Für kurze Zeit senkte er seinen Blick, dann sah er auf und meinte: »Wir müssen warten, bis wieder etwas geschieht. Und dann brauchen wir Beweise.«
    Sie setzte sich zurück an seine Seite, hauchte ihm einen leichten Kuß auf die Wange und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Gemeinsam sahen sie nach draußen.
    »Wie geht es Miranda?« fragte er nach einer Weile.
    Gwen seufzte. »Nicht gut. Sie will nicht aufstehen, und als Ines gestern abend in ihr Zimmer kam, hatte sie fürchterliche Angst vor der Dunkelheit. Eigenartig, nicht wahr?«
    Er gab keine Antwort, aber sie ahnte, daß ihm die gleichen Fragen durch den Kopf gingen wie ihr selbst. Was war nur mit Miranda geschehen? Bisher hatte sie noch kein Wort gesprochen. Sollte auch in diesem Fall Christopher…
    Ein dumpfer Aufschrei riß sie aus ihren Gedanken. Beide sprangen sofort auf die Füße.
    »Das war hier im Haus!« rief Martin. Mit wenigen Sätzen durchquerte er das Zimmer und riß die Tür auf. Gwen war an seiner Seite, als sie auf den Korridor sprangen.
    »War das nicht Ines’ Stimme«, fragte sie.
    Er nickte. »Aber die Küche ist zu weit entfernt. Der Schrei klang näher.«
    Sie rannten den Gang hinunter, um eine Ecke und in die Richtung des Treppenhauses.
    Als sie die Stufen hinabliefen, hörten sie schon von weitem Ines’ lautes Schluchzen. Hinter der nächsten Rundung der Treppe sahen sie, was geschehen war. Die Köchin hatte Pimlotts Ratte gefunden.
    Hätte man Gwen vor diesem Tag gefragt, ob es – rein anatomisch – im Bereich des Möglichen läge, eine Ratte zu kreuzigen, so hätte sie das wohl verneint. Nun aber wurde sie eines Besseren belehrt: Jemand hatte das tote Tier mitten auf die schwarze Tür zum Ostflügel genagelt, mit abgespreizten Gliedern und hervorquellendem Bauch. Selbst im Tod tropfte noch Speichel aus dem halboffenen Maul der Ratte, und auf eine bizarre Art sah sie aus, als lächle sie.
    Ines stand davor wie Maria Magdalena in einer grotesken Bibelkarikatur und weinte bitterlich.
     
    Pimlott erlitt einen Zusammenbruch, als man ihm die Nachricht von Mables Tod überbrachte, was zur Folge hatte, daß der Unterricht für mindestens zehn Tage ausfallen würde.
    Gwens Vater ließ die komplette Dienerschaft auswechseln, mit Ausnahme natürlich von Flagg und Ines, da er den Täter in den Reihen des Personals vermutete. Es war das erstemal seit Jahren, daß der Lord sich in den Aufgabenbereich des Butlers einmischte, und Flagg lief für den Rest des Tages mit pikiert erhobener Nase durchs Haus.
    Niemand schien Gwens und Martins Verdächtigungen zu teilen, und da sie keinerlei Grundlage hatten, auf der sie Christopher offen hätten beschuldigen können, schwiegen sie verbittert.
    Der Freitag zog in einer unheilschwangeren Mischung aus Frustration und unausgesprochenen Anklagen vorüber, dunkle Wolken, die auf die Stimmung aller drückten, als hätten sie echtes, körperliches Gewicht.
    So hielt schließlich der Samstag Einzug im Hause Muybridge, und mit ihm schwemmte eine unsichtbares Woge aus Haß, Furcht und versteckter Aggression durch die Säle und Korridore.
    Christopher verbrachte den Nachmittag in der Kammer der Gewebefrau, hörte andächtig auf das, was sie ihm einflüsterte, genoß den Klang der Worte und das Gefühl ihrer Nähe.
    Und als endlich alle außer den Kindern und Flagg das Haus verlassen hatten, wurde ihm klar, daß die Zeit der Spielerei endgültig vorüber war.

3.
     
    »Du mußt völlig verrückt sein!«
    Sie saßen sich in Gwens Zimmer gegenüber. Martins Augen funkelten. Der Zorn, den Gwen in seiner Stimme hörte, war ebenso hart wie der Griff, mit dem er ihre Schultern umklammert hielt. Noch einmal zogen sich seine Brauen finster zusammen, dann sank seine Wut mit einem Mal in sich zusammen. Er ließ sie los und trat einen Schritt zurück.
    »Wenn du glaubst, daß ich das zulasse, hast du dich getäuscht, meine Liebe.« Er klang jetzt wie ihr Vater, und der Gedanke mißfiel Gwen zutiefst.
    Sie wollte ihm gerade eine

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