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Giebelschatten

Titel: Giebelschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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und schloß dann den hölzernen Deckel.
    Flagg hatte also tatsächlich eine Zigarrenspitze in dem Brandherd auf Martins Schreibtisch gefunden, weil Christopher sie dort deponiert hatte. Sie schüttelte den Kopf über soviel Kaltblütigkeit, aber gleichzeitig fragte sie sich, was sie anderes erwartet hatte. Natürlich plante jemand, der so weit ging, ein Feuer zu legen, jeden seiner Schritte im Voraus. Alles andere wäre Dummheit gewesen.
    Ihr Blick wanderte weiter über das vollgestopfte Regal gleich neben dem Fenster. Sie hatte die Vorhänge nicht beiseite gezogen, um bei einer übereilten Flucht keine Spuren zu hinterlassen, und das rote Licht, das durch den Stoff fiel, war innerhalb der letzten Minuten noch dunkler geworden. Gemeinsam mit der Abenddämmerung zogen dichte, schwarze Wolken am Himmel auf, und einmal hatte sie es in der Ferne donnern hören. In der Nacht würde es ein Gewitter geben.
    Auf den Regalbrettern lagen Bücher, ein paar Schreibwerkzeuge und ein halbes Dutzend unterschiedlicher Behälter. Sie öffnete den Deckel einer Dose und sah hinein. Darin befanden sich unzählige kleine Papierfetzen, so, als hätte Christopher stundenlang in seinem Zimmer gesessen, Blätter zerrissen und die Überreste aufbewahrt. Sie erkannte keinen Sinn darin und befürchtete, daß es gar keinen gab. Der Gedanke bestärkte sie in der Ansicht, daß mehr hinter Christophers Taten steckte als pure Geltungssucht.
    Mein Gott, dachte sie, er ist irre, er ist wirklich und wahrhaftig irre.
    Dann fand sie das Glas.
     
    Der Schmerz war immer noch grauenhaft. Martin stemmte sich auf die Beine, taumelte vorwärts und stolperte die ersten Stufen hinauf. Auf seinen Lippen lag der metallische Geschmack des Blutes, das aus seiner Nase rann, und er hoffte nur, daß der Schlag nicht sein Nasenbein gebrochen hatte.
    Christopher erreichte den Absatz der vierten Etage und stieg weiter nach oben. Ihre Zimmer lagen im fünften Stock. Schlimmer noch als der Schmerz in Martins Kopf war seine Angst um Gwen. Falls dieser Verrückte sie fand, während sie seine Sachen auf den Kopf stellte…
    Martin weigerte sich, den Gedanken zuende zu führen. Statt dessen kämpfte er sich weiter die Treppe hinauf, in weitem Abstand hinter Christopher her, der sich nicht einmal zu ihm umsah.
    »Du Bastard!« schrie Martin, doch sein Stiefbruder reagierte nicht. »Bist du jetzt völlig übergeschnappt? Reicht es dir nicht mehr, Feuer zu legen?« Erneut raste Schmerz durch sein Gesicht. »Was hast du jetzt vor? Willst du uns alle umbringen?«
    Christopher blieb stehen. Er wandte sich langsam, fast bedächtig um, und stieß seinen Blick wie Messerklingen hinab in Martins Augen. Sein Gesicht blieb starr wie ein Eisblock.
    Gütiger Himmel, durchfuhr es Martin, er meint es ernst, er meint es tatsächlich ernst!
    Er verdoppelte seine Anstrengungen, die Distanz zwischen sich und seinem Stiefbruder zu überwinden. Christopher stieg zügig, aber nicht übereilt die letzten Stufen hinauf, während Martin sich hinter ihm her schleppte. Nur langsam holte er auf, aber er bezweifelte, daß er seinem Gegner gewachsen sein würde, selbst wenn er ihn noch vor dessen Zimmer erreichte. Zu groß waren immer noch die Schmerzen und zu deutlich die Schwächung, die sie verursachten.
    In einem Anflug von blankem Terror sah er, wie Christopher den fünften Stock erreichte, ihm noch einmal bösartig zulächelte und dann im Korridor verschwand.
    Gwen, schrie es in Martin, während er die Stufen hinaufstolperte. Großer Gott, Gwen!
     
    Es stand zwischen einer leeren Tabaksdose und einem Schulbuch in lateinischer Sprache: ein altes, gelbstichiges Einmachglas, wie jene, die Ines in ihrer Vorratskammer aufbewahrte.
    Auf den ersten Blick schien es leer zu sein, und Gwen wollte sich bereits zur Tür wenden, um das Zimmer endlich zu verlassen, als sie plötzlich bemerkte, daß etwas auf dem Grund des Glases lag. Sie wandte sich dem durchsichtigen Behältnis noch einmal zu, und tatsächlich: Sein Boden war fingerbreit bedeckt mit etwas dunklem, das sie auf den ersten Blick für Staub oder Schmutz hielt.
    Sie beugte sich näher heran, bis ihre Nasenspitze fast das Glas berührte, und sah genauer hin. Im roten Halbdunkel des Zimmers glaubte sie erst, es seien Haare, mehrere Büschel von dunkler, fast schwarzer Farbe, deren Enden in alle Richtungen abstanden, verbogen und verknickt. Aber irgend etwas stimmte nicht damit, sie waren zu dick, eher wie kurze Stücke eines Bindfadens, die jemand

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