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Giebelschatten

Titel: Giebelschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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unnatürlich verdreht und gestaucht hatte.
    Dann bemerkte sie die borstige Oberfläche der schwarzen Fäden. Und im gleichen Augenblick erkannte sie, daß es keine Fäden waren.
    Es waren Beine. Von Spinnen.
    Christopher hatte hunderte davon gesammelt.
     
    Martin erreichte den oberen Treppenabsatz und schleppte sich um die Ecke in den Korridor.
    Christopher war nirgendwo zu sehen. Er rief seinen Namen, erwartete aber keine Antwort.
    Dann sah er ihn. Der schlanke, dunkelhaarige Junge trat am anderen Ende des Flurs aus dem Schatten eines hohen Blumenkübels in das unruhige Licht der Gaslampen, die weit verteilt an den Wänden flackerten. Ein Grinsen lag auf seinen Zügen; seine Mundwinkel waren unnatürlich weit in die Höhe gezogen, so, als sei sein ganzes Gesicht in einem diabolischen Krampf erstarrt.
    »Tut’s weh?« erkundigte er sich unschuldig.
    Martin holte tief Luft und gab sich Mühe, gerade zu stehen. »Warum tust du das? Was hast du davon?«
    Christopher lachte leise. »Die uralte Frage des Verlierers.« In seinen Augen blitzte es. »Warum?« äffte er seinen Stiefbruder nach.
    »Du bist verrückt.«
    »Bin ich das?«
    Martin gab keine Antwort. Er wußte, daß es für jedes Gespräch zu spät war.
    Christophers Lächeln klaffte in seinem Gesicht wie eine groteske Wunde. »Manchmal glaube ich, daß du recht hast. Manchmal…« Er machte eine bedeutungsschwere Pause, dann fuhr er fort: »Aber sie sagt mir, daß alles richtig ist, daß alles genau so sein muß und nicht anders.«
    »Sie?« fragte Martin verwirrt.
    »Wo hast du deine kleine Freundin gelassen?« fragte Christopher statt einer Antwort. »Deine Schwester. Unsere Schwester.« Sein Grinsen hatte etwas Wölfisches.
    »Gwen ist weder deine, noch meine Schwester. Das weißt du.« Martin spürte, wie Zorn seinen Schmerz verdrängte. Welchen Sinn hatte es, hier zu stehen, und mit einem Wahnsinnigen zu diskutieren? Aber was sonst konnte er tun?
    Er hoffte, daß Gwen sie hörte und gewarnt wurde. Christophers Zimmer lag einen Korridor weiter, und normalerweise hätten ihre Worte bis dorthin vordringen müssen.
    Plötzlich drehte sein Gegenüber sich um und verschwand mit eiligen Schritten hinter der nächsten Ecke.
    Jetzt ist alles zu spät, dachte Martin panisch.
    Er stürmte so schnell er konnte vorwärts. Dankbar spürte er, daß seine Glieder ihm wieder gehorchten, daß er während der kurzen Atempause neue Kräfte gesammelt hatte. Selbst der Schmerz verging.
    Er erreichte den Knick im Korridor und sah, wie Christopher auf sein Zimmers zuging.
    Im selben Moment öffnete sich die Tür, und Gwen trat auf den Flur.
    Sekundenlang standen sie und Christopher sich gegenüber, dann irrte ihr Blick an ihm vorbei zu Martin und sah ihn fast vorwurfsvoll an.
    Christopher schrie wutentbrannt auf. Seine Hand schoß vor, griff nach Gwens Unterarm und riß sie daran herum. Sie versuchte nach ihm zu treten, verfehlte ihn aber und stolperte durch den eigenen Schwung zur Seite.
    Dann hielt sie plötzlich etwas in ihrer freien Hand, ein Glas oder eine Vase, holte aus und ließ den Gegenstand mit aller Kraft in Christophers Gesicht krachen. Ohne die Wirkung ihrer Attacke abzuwarten, riß sie sich los, stürmte an ihrem Gegner vorbei und rannte auf Martin zu.
    Christopher schrie.
    Gwen sah sich nicht nach ihm um, aber sie spürte seine tosende Wut in ihrem Rücken. So schnell sie konnte lief sie den Korridor hinunter. Noch im Laufen entdeckte sie das Blut in Martins Gesicht, das aus einer breiten Platzwunde über seinem Auge floß. Obgleich sie erschrak, hielt sie nicht an.
    »Los, komm!« rief sie ihm im Vorbeilaufen zu. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie er herumfuhr und ihr folgte.
    Sie erreichten das Treppenhaus und stürmten die Treppen hinunter in den vierten Stock.
    »Was hast du vor?« stöhnte Martin.
    Erst jetzt wurde Gwen klar, wie schmerzhaft die Verletzung in seinem Gesicht sein mußte.
    Sie sah nach oben zur Korridormündung der fünften Etage, aber Christopher war noch nicht zu sehen. Das Glas mußte ihn heftiger getroffen haben, als sie erwartet hatte. Gut so.
    »Wir müssen zu Nicole und Miranda«, keuchte sie, »und dann nach draußen.«
    Mit hastigen Sprüngen erreichten sie den Treppenabsatz, eilten durch die Tür zum Flur und ins Zimmer der Kleinen.
    Nicole saß am Bett ihrer älteren Schwester und hielt ihre Hand. Als Gwen und Martin die Tür aufrissen, fuhr sie erschrocken zusammen. Miranda aber zuckte nicht einmal. Ihr Gesicht war starr und glänzte

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