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Giebelschatten

Titel: Giebelschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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ein schmaler Flur, an dessen Ende eine Wendeltreppe in die Höhe führte. Daneben gab es eine weitere Tür.
    Gwen sah sich gehetzt um. Auf dem Durchgang zum Korridor steckte der Schlüssel. Sie warf die Tür zu und schloß ab. Das würde Christopher zumindest für kurze Zeit aufhalten.

    »Dort hoch?« fragte Martin zweifelnd und blickte an den Stufen hinauf. Die Öffnung in der Decke lag im Schatten.
    Sie schüttelte den Kopf. Nicole drängte sich enger an ihren Körper. »Laß uns erst nachsehen, was hinter der Tür ist.«
    Martin stellte Miranda vorsichtig auf die Beine. Entgegen seiner Erwartung konnte sie sich auf den Füßen halten. Dann trat er an die Tür neben der Treppe, öffnete sie vorsichtig und blickte in den Raum dahinter.
    Es war ein ehemaliges Schlafzimmer. Sämtliche Möbelstücke waren mit Leinentüchern abgedeckt. Zwei riesige Fenster wiesen hinaus in die Nacht. Der Regen hämmerte mit überirdischer Gewalt gegen die Scheiben.
    Martin stürzte vor und entriegelte eines der Fenster. Mit einem gefährlichen Krachen gab es nach und schwang nach innen. Sofort war der Raum erfüllt vom Getöse des Unwetters, und Gwen zog ihre beiden Schwestern schützend an sich. Sie fühlte, daß Miranda am ganzen Körper zitterte. Nicole weinte leise.
    Martin schrie irgend etwas hinaus in die Nacht, aber Gwen wußte, daß es nichts nützen würde. Niemand war bei einem solchen Gewitter auf der Straße, nicht in einem Viertel wie diesem. Hier lagen die Menschen nachts in ihren Betten, horchten auf das Prasseln des Regens und kuschelten sich tiefer in ihre Decken.
    Mit einem Fluch warf Martin das Fenster wieder zu. »Wir könnten die Tücher verknoten und hinausklettern«, schlug er vor.
    Gwen schüttelte den Kopf. »Und Miranda? Sie kann in diesem Zustand nicht klettern.«
    Er öffnete den Mund um etwas zu erwidern, doch im selben Moment erklang ein fürchterliches Krachen und Bersten. Gwen dachte erst, es sei ein weiterer Donner, dann aber wurde ihr klar, daß Christopher drauf und dran war, die verschlossene Tür zum Korridor zu durchbrechen.
    »Wir müssen die Treppe hinauf«, stellte sie fest.
    »Und dann?«
    »Das sehen wir, wenn wir oben sind.«
    »Sehr überzeugend«, brummte Martin humorlos.
    Gwen drängte Nicole und Miranda, die nun fast von selbst lief, aus dem Zimmer hinaus auf den Flur. In der Tür zum Korridor klafften mehrere Risse, und sie konnte Christophers Keuchen hören, als er den Haken ein weiteres Mal gegen das Holz krachen ließ.
    Sie wollten gerade die Stufen hinaufspringen, als Martin ihnen plötzlich mit einer Handbewegung gebot, stehenzubleiben.
    »Psst!« machte er und horchte.
    Dann hörte Gwen es auch.
    Es war eine Stimme, draußen auf dem Korridor. Sie sprach mit Christopher, der seine Schläge gegen die Tür eingestellt hatte. Die beiden drängten sich enger an das Holz, bis sie jedes Wort verstehen konnten, das draußen geredet wurde.
    Und bis sie die Stimme erkannten.
     
    Flagg tauchte wie ein Gespenst aus der Dunkelheit auf und stand plötzlich neben Christopher.
    »Sir?« fragte er.
    Christopher ließ verblüfft den Haken sinken. Was wollte der Kerl von ihm?
    »Sir«, fuhr der Butler fort, »ich nehme an, Sie haben es gefunden?«
    Christopher drohte ihm mit dem Haken. »Was willst du?«
    »Sie haben es gefunden, nicht wahr?« wiederholte Flagg.
    »Was soll ich finden?«
    Flagg schüttelte langsam seinen langen Kopf. »Das weiß ich nicht. Irgend etwas, das Ihnen geholfen hat. Wie damals dem unglückseligen Sir Ralph.«
    In Chris verwirrtem Geist regte sich etwas. Sir Ralph – war das nicht der Verwandte, von dem Lord Muybridge gesprochen hatte? Der, der hier im Ostflügel den Verstand verloren hatte?
    Er wollte danach fragen, als sich hinter der verschlossenen Tür etwas regte.
    »Flagg«, rief eine dumpfe Stimme. Gwen. »Helfen Sie uns! Christopher hat den Verstand verloren.«
    Der Butler rührte sich nicht. Das gefiel Christopher. Der Mann war auf seiner Seite. Wieder unterdrückte er den Drang, in brüllendes Gelächter auszubrechen.
    »Ich selbst habe lange danach gesucht, überall im Ostflügel«, sagte Flagg, ohne das Trommeln an der Tür und die Hilferufe dahinter zu beachten. »Ich habe alles über den Fall des jungen Sir Ralph gelesen, was ich in der Bibliothek finden konnte. Dann stieß ich auf sein Tagebuch. Darin berichtet er von etwas, daß er hier gefunden oder getroffen hat, etwas, das ihm all seine Ängste und Sorgen genommen hat.« Flagg rümpfte die Nase. »Das

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