Giebelschatten
wie das einer Wachsfigur. Immer noch litt sie unter einem fürchterlichen Schock, und Gwen hätte viel dafür gegeben zu erfahren, was Christopher ihr angetan hatte. Zumindest daran bestand nun wohl keine Zweifel mehr.
»Wir müssen fort von hier«, sagte sie so ruhig wie möglich, aber sie spürte selbst, wie gekünstelt ihre Gelassenheit klang. Panik sprach aus ihrer Stimme, und die blutende Wunde in Martins Gesicht tat das ihre dazu, den Ernst der Lage deutlich zu machen.
Nicole sprang auf, lief auf Gwen zu und umarmte sie. »Warum?«
Gwen drückte sie flüchtig an sich, dann sah sie die Kleine an. »Christopher ist böse auf uns«, erklärte sie eilig. »Wir müssen vor ihm fortlaufen.«
Nicole blickte sie aus großen Augen an. »Hat er das mit Miranda gemacht?«
Sie nickte. »Ich glaube, ja.«
Martin sprang vor, schlug die Decke zurück und nahm Miranda auf den Arm. Sie ließ es geschehen, ohne zu widersprechen, nur in ihrem Gesicht regte sich etwas, und eine einzelne Träne perlte aus ihrem Auge.
»Los«, zischte er, »wir müssen weiter.«
Ein Blitz tauchte das Zimmer für einen Sekundenbruchteil in eisiges Licht. Von draußen erklang ein ohrenbetäubendes Donnern, und fast im gleichen Augenblick begann ein Wolkenbruch gegen die Fensterscheiben zu prasseln.
Sie rannten hinaus auf den Gang, Nicole an Gwens Hand und Martin mit Miranda im Arm. Hastig liefen sie ins Treppenhaus, konnten Christopher nirgendwo entdecken und machten sich auf den Weg nach unten. Gwen sah, wie sich Martins Gesicht vor Anstrengung zu einer Grimasse verzog, während er das elfjährige Mädchen die Stufen hinabtrug. Seine Wunde schien stärker zu bluten als zuvor.
Christopher stand zwischen dem zweiten und dritten Stock auf der Treppe und erwartete sie. Wieder donnerte es.
Nicole schrie gellend auf, als sie den rußigen Schürhaken in seinen Händen sah. Ihr Stiefbruder aber grinste nur und kam langsam auf sie zu.
»Hier endet es«, flüsterte er tonlos.
Bei jeder anderen Gelegenheit hätte Gwen über soviel Pathos gelacht. Jetzt aber wußte sie, daß der wahnsinnige Junge jedes seiner Worte ernst meinte. Der eiserne Haken, den er in den Fingern hielt, zog ihren Blick an wie ein Magnet. O Gott, dachte sie, das darf doch alles nicht wahr sein!
»Zurück!« brüllte Martin und stürmte die letzten Stufen wieder hinauf, bis er den Absatz der dritten Etage erreichte. Mit hastigen Schritten sprang er auf die hohe, schwarz lackierte Tür zu.
Der Ostflügel, dachte Gwen fest traurig. Am Ende mußte es wohl so kommen.
Sie atmete auf, als Martin die Klinke herunterdrückte und die Tür widerstandslos nach innen schwang.
»Er hat nicht abgeschlossen«, stöhnte er. Sie verstand nicht, was er meinte, aber es war ihr auch egal. Hauptsache war, es gab eine Möglichkeit zur Flucht, eine Chance, diesem Irren zu entkommen.
Sie riß Nicole mit sich nach oben und sprang mit ihr hinter Martin und Miranda durch den Türspalt. Von innen warf sie sich gegen das schwere Holz und atmete erleichtert auf, als sie spürte, wie die Tür hinter ihr ins Schloß fiel.
Der Ostflügel empfing sie mit staubiger Finsternis und jenem Gefühl von Leere, das seine verlassenen Räume und Korridore verströmten wie einen schlechten Geruch.
Gwen erwiderte Martins fragenden Blick und nickte. Sie mußten weiter, irgendeinen Weg nach unten finden. Sie kannte nur diese eine Verbindung zum Rest des Hauses, aber es durfte einfach nicht sein, daß es nur diesen Ausgang gab. Irgendwann war dies schließlich einmal ein von Menschen bewohnter Ort gewesen.
Gerade wollte sie sich von der Tür abstoßen und mit den anderen den Gang hinunterlaufen, als plötzlich das Holz in ihrem Rücken unter einer brutalen Erschütterung vibrierte. Sie blickte zur Seite – und konnte eben noch den Kopf zurückreißen, als dort, wo gerade noch ihre Wange gewesen war, die stählerne Spitze des Schürhakens durch die Tür brach.
Sie schrie auf, sprang vorwärts und folgte Martin und den Kindern tiefer in die Dunkelheit.
Hinter ihr wurde mit einem Krachen die Tür aufgestoßen, dumpfes Licht durchbrach die Schatten, und im Rahmen erschien Christophers Silhouette wie die bedrohliche Kontur eines Teufels. Er lachte leise, als er den Ostflügel betrat und den Türflügel hinter sich zudrückte. Mit einem kurzen Handgriff und einer Drehung seines Metalldrahtes verriegelte er das Schloß und grinste in die Finsternis.
Sie flohen durch die erste Tür, die offenstand. Dahinter befand sich
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