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Giebelschatten

Titel: Giebelschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Gründer des Theaters.« Sie tupfte sich mit einer Serviette die Lippen ab. »Er hat letztlich nichts anderes getan, als die Attraktionen der Schaubuden, die es überall in der Stadt gibt, unter einem Dach zu vereinen.«
    »Mit Erfolg?«
    »Ja«, sagte Valerie, »die Vorstellungen sind fest immer gut besucht, vor allem die der wirklich grausamen Stücke. Je mehr Blut fließt, desto mehr Menschen kommen zu uns. Verrückt, nicht wahr?«
    Curtis lächelte. »Die Menschen hungern nach Sensationen. Ich muß gestehen, ich bin nicht nur wegen Ihnen dorthin gekommen. Auch ich schätze diese… Art der Unterhaltung.«
    Valerie senkte ihren Blick. »Anfangs kam eine Menge sehr eigenartiger Zuschauer, Sie wissen schon, Menschen mit seltsamen Vorlieben. Aber seit ein paar Monaten nehmen auch die Kritiker fast aller großen Zeitungen an den Vorstellungen teil. Monsieur Clement vom Figaro versäumt keine Premiere.«
    »Er hat Sie gelobt.«
    Valerie strahlte. »Sie haben seine Kritik gelesen?«
    »Natürlich.« Er überlegte kurz. »›Eine göttliche Furie des Wahnsinns!‹ Damit meinte er Sie!«
    Valerie lachte hell auf. Vom Nebentisch warf ihr ein älterer Herr einen bösen Blick zu. Curtis bemerkte es. »Machen Sie sich nichts daraus. Ich bin sicher, der verbringt seine Abende beim Kartenspielen und träumt von jungen Damen wie Ihnen.«
    Sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg, und Curtis grinste fröhlich. »Tut mir leid. Ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen.«
    Als sich ihre Blicke trafen, konnte Valerie ein erneutes Lachen nicht unterdrücken. »Nun entschuldigen Sie sich schon wieder bei mir.«
    Sie war noch nie in ihrem Leben in einem Restaurant wie diesem gewesen. Der riesige Raum war angefüllt mit unzähligen Tischen, an denen sich die feine Gesellschaft von Paris tummelte. Die meisten nahmen ihr Essen mit fast religiöser Andacht ein, so als sei dies nichts als ein Ritual.
    Die Wände des Raumes waren holzgetäfelt und mit goldenen Armleuchtern bestückt. Von der braunen Kassettendecke hingen schwere Lüster mit mehr als einem halben Dutzend Armen und unterschenkellangen Wachskerzen. Die Südwand wurde von mehreren gewaltigen Fenstern durchbrochen, sechs oder sieben Meter hoch, mit Sprossen aus dunklem, glänzendem Holz. Bei Tag mußte man von hier aus über die Seine hinweg bis zum Stolz der Pariser Weltausstellung von 1889 blicken können, zum Eiffelturm, hinter dem die ewigen Rauchfahnen der Vorstadtfabriken in den Himmel stiegen.
    Jetzt aber waberte vor den Scheiben nur die Dunkelheit der Nacht, wie ein schwarzes Samtkissen, auf dem ein Kristallgeschmeide aus flackernden Gaslichtern und erleuchteten Fenstern glitzerte.
    Zwei Kellner brachten das Dessert. Als Valerie ihren Blick von den imposanten Fenstern abwandte, bemerkte sie, daß Curtis sie ansah. Er hatte ganz unschicklich die Ellbogen auf den Tischrand gestützt und die Hände vor dem Kinn verschränkt. Seine Lippen hatten sich zu einem feinen Lächeln verzogen, und seine Augen strahlten. Als sie seinen Blick kreuzte, schien er wie aus einem Tagtraum zu erwachen, nahm die Hände herunter und räusperte sich nervös. Er sah auf das Dessert herab.
    Auch Valerie betrachtete zweifelnd die Schale mit Cremespeise vor sich auf dem Tisch. Als sie aufsah, trafen sich ihre Blicke unvorbereitet zum zweiten Mal hintereinander, und plötzlich mußten sie beide grinsen.
    »Sie sind satt«, stellte Curtis fest.
    »Sie auch.«
    Sie lachten erneut, und der alte Herr am Nebentisch legte mit einem Scheppern protestierend die Gabel auf den Tellerrand. Curtis verschluckte seine Heiterkeit mit einem verkrampften Glucksen und wies Valerie mit einem gespielt finsteren Blick zurecht, der sie erneut loskichern ließ.
    Ein paar Minuten später traten sie auf die verschneite Straße. Auf dem Pflaster hatten unzählige Pferdehufe und Kutschenräder den weißen Teppich in farblosen Schlamm verwandelt, doch auf den Gehwegen und Simsen der Fassaden lagen leuchtende Hauben aus Eiskristallen, und die Laternen trugen spitze Hüte aus Schnee. Valerie raffte beim Anblick der winterlichen Pracht ihr fellbesetztes Cape fester zusammen, aber in Wirklichkeit war es lange nicht so kalt, wie sie erwartet hatte. Curtis rief eine Kutsche herbei, half ihr galant beim Einsteigen und gab dem Kutscher durch ein Seitenfenster den Wink zur Abfahrt.
    In der kleinen Kabine herrschte unruhiges Zwielicht, und der Schein der Gaslampen an den Straßenrändern ließ ihre Schatten im Vorbeifahren

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