Giebelschatten
Blutgräfin, der sich mit einer demütigen Verbeugung verabschiedete und kichernd davon hüpfte. Valerie schaute ihm einen Moment lächelnd hinterher, dann bog sie in den Gang zu ihrer Garderobe. Und blieb wie angewurzelt stehen!
Vor ihrer Tür stand der Fremde aus der ersten Reihe.
Als er sie sah, huschte ein erfreutes Lächeln über sein Gesicht. Valerie erwachte aus ihrer Erstarrung und machte ein paar zögernde Schritte auf ihn zu.
Das Erste, was sie dachte, war, daß er großartig aussah. Er war kein Schönling wie Patrick, aber etwas war an ihm, eine Aura aus Charme und Faszination, die sie sofort in seinen Bann zog.
»Ich hoffe, ich habe Sie nicht erschreckt«, sagte er vorsichtig, aber Valerie hörte es kaum. Er mochte Anfang Dreißig sein, ein paar Jahre älter als sie selbst, und er trug maßgeschneiderte Kleidung aus irgendeinem schimmernden – fraglos sündhaft teuren – Stoff. In einer Hand hielt er einen schwarzen Zylinder. Sein Gesicht war nicht wirklich schön, aber die scharfen Wangenknochen verliehen seinen Zügen eine edle Eleganz. Seine Augen leuchteten in einem fast kindlichen Eifer, der nur schwerlich zum Rest seiner Erscheinung paßte.
»Ich fürchte, Sie sind doch erschrocken«, meinte er seufzend und lächelte. Seine Aussprache war betont und klar, aber Valerie glaubte, einen leichten Akzent aus seinen Worten herauszuhören.
Als wäre sein Satz ein verstecktes Sesam, öffne dich!, erwachte sie schlagartig aus ihrer Hingerissenheit.
»Bitte?« war das Intelligenteste, das ihr einfiel.
Er lächelte noch immer. »Ich meinte, daß es mir leid tut, Ihnen hier so unangemeldet aufzulauern. Ich hoffe, Sie verzeihen mir.«
Valerie lachte nervös auf. »Sicher«, sagte sie. »Was kann ich für Sie tun?« Plötzlich erinnerte sie sich an ihren Aufzug, an ihr sirupverschmiertes Haar und das Tuch, das sie sich umgeworfen hatte. Sie schickte ein Stoßgebet zum Himmel, daß es sich nicht, wie gestern, gelöst hatte, aber ein kurzer Blick an sich hinunter beruhigte sie. Der Stoff war noch dort, wo er sein sollte. Zumindest stand sie dem Mann nicht halbnackt gegenüber.
Seine Augenbrauen zuckten nach oben, als er ihren Blick bemerkte. »Oh, verzeihen Sie, sicherlich möchten Sie sich erst anziehen, bevor Sie sich von aufdringlichen Verehrern verärgern lassen.«
Hatte er tatsächlich Verehrer gesagt? Valeries Herz machte einen kleinen Sprung.
»Schon gut«, sagte sie und lächelte. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
Der Mann sah kurz zu Boden, fast verschämt, und sein dunkles Haar reflektierte für eine Sekunde das Licht der Gaslampen. »Würden Sie…«, begann er, verstummte, und fing von Neuem an: »Könnten Sie sich vorstellen, mit mir zu Abend zu essen?«
Irgendwo, hoch über Valeries Kopf, schlugen zwei Wellen zusammen und ertränkten sie in einer Flut aus Überraschung und Freude. Ihre Zurückhaltung wurde wie eine Flaschenpost fortgeschwemmt.
»Natürlich!« platzte es fröhlich aus ihr heraus. Doch schon eine Sekunde später hätte sie vor Scham über soviel Unüberlegtheit im Boden versinken mögen.
Er sah es und lächelte. »Phantastisch«, sagte er und schien erleichtert. Er sah aus, als hätte er ernsthaft mit einer Absage gerechnet. »Ich werde hier auf Sie warten, wenn ich darf. Lassen Sie sich Zeit.«
Valerie wußte nicht, was sie darauf antworten sollte, deshalb schenkte sie ihm einfach ihr großartigstes Lächeln, ging zur Tür und öffnete sie. Dann drehte sie sich noch einmal zu ihm um.
»Darf ich Ihren Namen erfahren, Monsieur?«
Er fuhr zusammen. »Verzeihen Sie, bitte verzeihen Sie«, stotterte er aufgeregt. »Ich habe mich Ihnen nicht vorgestellt.«
Valerie kicherte schelmisch. »Wann werden Sie endlich aufhören, mich ständig um Verzeihung für irgend etwas zu bitten?«
Das schien ihn völlig aus dem Konzept zu bringen, er sah sie für einen Augenblick einfach nur aus aufgerissenen Augen an, grinste dann nervös und straffte seinen Oberkörper. »Lord Curtis Cranham«, sagte er feierlich, schüttelte aber dann den Kopf. »Den Lord vergessen Sie am besten gleich wieder.«
»Aus England!« entfuhr es Valerie überrascht.
Curtis nickte.
»Aus London«, sagte er und lächelte.
»Wahnsinn, Gewalt, Tod – das scheinen mir die Hauptthemen Ihres Theaters zu sein.« Curtis winkte einen Kellner herbei, um Wein nachzuschenken.
Valerie nickte. »Es gibt das Grand Guignol erst seit einem Jahr, aber Max hat –«
Er unterbrach sie. »Max?«
»Max Maurey, der
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