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Giebelschatten

Titel: Giebelschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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jetzt.
    Curtis wollte etwas sagen, doch Valerie schüttelte den Kopf und legte ihm ihren Zeigefinger an die Lippen. Dann entwand sie sich wortlos seinen Armen und huschte ohne sich umzusehen zur Tür. Sie wartete nicht, bis er zwischen den Schneeflocken verschwunden war.
     
    In den Schatten flackerten die bleichen Gesichter von Kindern, schwebende Gespenster mit großen, matt gewordenen Augen, in denen sich Angst, Kälte und Trotz die Waage hielten. Sie hockten allein oder in Gruppen in Hauseingängen und den schmalen Durchgängen zwischen den Mauern. Manche spielten, andere wärmten sich aneinander, aber viele saßen einfach nur da, kleine, verlorene Bündel, die bewegungslos, fast apathisch hinaus aus ihrem Elend starrten, stumm froren, und denen alles, was sich auf der Straße tat, völlig gleichgültig war. Doch der Anschein täuschte; ihre Augen folgten jeder fremden Bewegung mit einem blitzschnellen Zucken.
    Josette, die eigentlich Margot hieß und ihren wirklichen Namen fast so sehr haßte wie die schmutzigen Gassen von Paris, kannte Kinder wie diese. Sie war selbst zwischen ihnen aufgewachsen, zerrissen zwischen Furcht und kaltem Haß auf ihre Mütter, die sie bei Nacht auf die Straßen warfen, um ihre Zimmer – und sich selbst dazu – stundenweise an Fremde zu vermieten. In einer Stadt wie dieser waren das keine Einzelschicksale, und in jedem Jahr gab es Dutzende, die den Winter und seine eisigen Nächte nicht überlebten.
    Während sie dem Mann entlang der alten Fassaden folgte, sah Josette immer wieder aus den Augenwinkeln kleine, schmutzige Gesichter, die flink in den Schatten verschwanden, wie Maulwürfe, die sich ins Dunkel ihrer Tunnellöcher verkrochen.
    Ihr Begleiter hatte in den letzten Minuten kein Wort mehr gesprochen. Seit der Schnee aufgehört hatte, die Luft mit seinen weißen Wogen in völlige Stille zu tauchen, konnte Josette wieder die Geräusche der Umgebung hören. Fernes Geschrei und schlagende Türen rissen sie aus dem winterlichen Reich des Schweigens, in das sie die Schneefälle der vergangenen Stunden entführt hatten.
    Der Mann ging zwei Schritte vor ihr. Die Kante seines schwarzen Mantels schleifte durch den Schnee, ohne daß es ihn zu stören schien. Sein Zylinder war viel zu tief in die Stirn gezogen, als daß es gewöhnlichen Ansprüchen von Eleganz hätte standhalten können. Josette vermutete, daß der Mann sein Gesicht im Schatten verbarg, weil er mit einer wie ihr durch die Straßen zog.
    »Ist es noch weit?« erkundigte sie sich.
    Der Mann drehte sich im Gehen um und sah sie flüchtig aus dem Dunkel unter seiner Hutkrempe an. »Noch ein paar Schritte. Gleich hinter der nächsten Kreuzung.«
    Seine Stimme klang gedämpft unter dem Schal, den er bis zur Nase hochgezogen hatte, und der Stoff verwandelte die Worte in das dumpfe Keuchen eines Lungenkranken.
    Schweigend erreichten sie eine Stelle, an der die schmale Straße von einer noch engeren Gasse geschnitten wurde. Der Mann blieb kurz stehen, wartete, bis Josette zu ihm aufgeschlossen hatte, und bog dann in eine Schneise, die zwischen zwei Häuserwänden in die Finsternis führte.
    Josette zögerte einen Augenblick. Als ihr Führer es bemerkte, rief er: »Haben Sie keine Angst, Mademoiselle.«
    Mademoiselle, dachte Josette zynisch. Wenigstens wußte der Kerl, was sich gehört. Fast hätte sie laut aufgelacht.
    Sie folgte ihm vorsichtig, wobei sie sich mit einer Hand an der feuchten Wand entlang tastete. Nachdem sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte sie einen schwachen Lichtschein, von dem sich die Silhouette des Mannes pechschwarz abhob.
    Plötzlich endete die Schneise, und vor ihr öffnete sich ein weiter Hinterhof, der durch mehrere Gaslampen an den Wänden in zitterndes Zwielicht getaucht wurde. Die eine Seite des Hofes wurde von einer prächtigen Fassade eingenommen, dreigeschossig, mit hohen Fenstern und aufwendigen Verzierungen. Ein doppelflügliges Tor führte ins Innere. Darüber waren in eine Glasscheibe drei Worte in einer fremden Sprache eingelassen, die sie nicht verstand und die sie auch bei besserer Beleuchtung nicht hätte lesen können.
    »Mein Zuhause«, sagte der Mann. »Palais Sodom.« Er lachte wie über einen besonders gelungenen Scherz, und Josette fragte sich, was wohl so erheiternd war.
    Er ging zur Tür, schloß auf und ließ sie zuvorkommend an sich vorbei ins Innere treten. Drinnen brannten Dutzende Kerzen. Eine Halle führte tiefer ins Haus, und an ihrem Ende erkannte

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