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Giebelschatten

Titel: Giebelschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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stets von neuem über die Innenwände wandern.
    »Und nun?« fragte Valerie.
    Curtis zuckte die Achseln. »Jetzt bringe ich Sie nach Hause und erneuere meine Einladung für morgen abend. Wenn es Ihnen recht ist, heißt das.«
    »Sie sind sehr nett zu mir, Monsieur Cranham.«
    Jetzt wirkte sein Lächeln fast ein wenig verschämt.
    Valerie schlug die weite Kapuze ihres Capes zurück und schüttelte ihr Haar über die Schultern. »Ihr Französisch ist sehr gut. Besser, als das vieler Ihrer Landsmänner hier in der Stadt.«
    »Ich lebe schon eine Weile in Paris«, erklärte er.
    »Darf ich fragen, seit wann?«
    »Schon über zehn Jahre.«
    »Warum sind Sie hergekommen? Hat London Ihnen nicht mehr gefallen?«
    Die Kutsche rumpelte durch ein Schlagloch und für eine Sekunde hatten beide genug damit zu tun, nicht von den Bänken zu rutschen. Dann schüttelte Curtis den Kopf.
    »Ich war damals noch sehr jung. Und unüberlegt. Aber ich glaube, ich würde es wieder tun. Und irgendwann werde ich wohl wieder nach England zurückkehren.«
    Ein Schatten huschte über Valeries Gesicht. »Haben Sie noch Familie in London?«
    »Meine Mutter. Und zwei Schwestern. Wir schreiben uns regelmäßig.«
    Sie schwiegen für einen Moment. Die Kutsche ratterte über das Pflaster und die Hufe der Pferde erzeugten helle Echos zwischen den Häusern. Hin und wieder spritzte der Schneematsch von der Straße bis hinauf zu den Seitenfenstern. Valerie spürte, daß Curtis nicht weiter über seine Vergangenheit sprechen wollte und sich einen Themenwechsel wünschte. Sie tat ihm den Gefallen. »Wußten Sie, daß die Gräfin Bathory über sechshundert Mädchen ermordet hat?«
    »Sechshundert?« stöhnte er.
    »Sie lebte vor über zweihundert Jahren in Ungarn, auf einem Schloß irgendwo im Gebirge. Von ihren Dienern ließ sie junge Frauen – gelegentlich sogar Kinder – entfuhren und in ihren Verliesen zu Tode foltern. Danach badete sie in ihrem Blut. Sie war besessen von der Idee, dadurch ihre Jugend und Schönheit zu erhalten.« Valerie hob kokett die Augenbrauen. »Ich mag die Rolle.«
    »Dann hat diese Gräfin wirklich gelebt?«
    Sie nickte. »Sie wurde schließlich lebendig eingemauert. Kein schöner Tod.«
    »Aber sechshundert Mädchen…« Er grinste. »Das ist eine schöne Leistung.«
    Valerie lachte. »Sie sind tatsächlich nicht nur meinetwegen ins Theater gekommen, Monsieur.«
    »Curtis«, verbesserte er.
    Sie blickte in die Schatten unter seinen Augenbrauen und nickte. »Curtis.«
    »Vielleicht sollten wir dem Kutscher Ihre Adresse geben?«
    »Was haben Sie ihm gesagt?«
    »Montmartre. Ich hoffe, das ist richtig.«
    »Sieht man mir so deutlich an, wo ich herkomme?« fragte sie ein wenig traurig.
    Er beugte sich vor. »Seien Sie nicht albern«, sagte er leise. »Sie sehen großartig aus. Und Montmartre ist ein Künstlerviertel.« Er lächelte. »Schauspieler sind doch Künstler, oder?«
    Valeries Züge hellten sich auf. Sie wollte etwas antworten, doch im gleichen Moment ging ein kräftiger Ruck durch den Wagen, und mit einem lauten Knarren und einem »Ho!« vom Kutschbock blieb das Gefährt stehen. Von draußen drang Lärm herein.
    Curtis rutschte zur Tür. »Was ist los?«
    Valerie beugte sich ans Fenster und sah hinaus. Die Straße war verstopft von Dutzenden von Menschen, von denen viele ausgelassen durch den Schnee sprangen. Manche trugen Masken, andere hatten ihre Gesichter in bunten Farben geschminkt. Von irgendwoher erklang Musik.
    »Eine Hochzeit?« fragte Curtis und preßte sein Gesicht gegen die Scheibe.
    Valerie schüttelte den Kopf. »Die Menschen feiern das neue Jahrhundert.«
    »Aber in drei Tagen ist erst Weihnachten.« Er verzog ungläubig das Gesicht. »Bis Neujahr sind es noch fast zwei Wochen.«
    »Diese Leute stellen hohe Erwartungen an das zwanzigste Jahrhundert. Vielen hier geht es sehr schlecht. Die Gassen sind voll mit Bettlern, Herumtreibern und Freudenmädchen. Sie alle hoffen auf eine bessere Zukunft.« Sie lächelte. »Unverbesserliche Optimisten.«
    Curtis drehte den Kopf und sah sie an. »Glauben Sie nicht an die Zukunft?«
    Valerie zuckte mit den Schultern und lächelte verträumt. »Wer weiß? Aber ist allein die Aussicht auf eine Zukunft ein Grund zum feiern?«
    Sie erwartete keine Antwort auf diese Frage, aber Curtis flüsterte: »Vielleicht.«
    Als sie ihn ansah, beugte er sich vor und küßte sie. Ganz kurz nur, fast scheu, und Valerie war so überrascht, daß ihr jedes weitere Wort im Hals stecken blieb.

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