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Giebelschatten

Titel: Giebelschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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elf Jahren in London angerichtet hat.«
    »Wie Sie schon sagen: das ist elf Jahre her«, gab Blin zurück.
    Pascin beachtete seine Worte nicht. »Fünf Huren, aufgeschlitzt und ausgeweidet. Ich möchte nicht, daß hier in Paris etwas Ähnliches geschieht. Können Sie das vielleicht nachvollziehen?«
    Blin ließ sich schwer in seinen Sessel fallen. »Ich werde mich über Sie beschweren, Monsieur.«
    Für einen kurzen Moment hatte Pascin das Bedürfnis, eine Briefbeschwerer von Blins Schreibtisch zu nehmen und ihn in die schwammige Visage des Irrenarztes zu hämmern. Darbon warf ihm einen beruhigenden Blick zu. Er kannte die Launen seines Vorgesetzten.
    »Hören Sie zu, Blin.« Pascin atmete tief durch. »Vielleicht können Sie erahnen, wie Sie meinetwegen mit Ihrer Beschwerde verfahren können. Ich versuche, einen wahnsinnigen Mörder zu fassen, der aufgrund Ihrer Unfähigkeit frei durch Paris läuft. Der Kerl ist jung und hochintelligent. Sollten Sie versuchen, mich auf irgendeine Weise daran zu hindern, werde ich dafür sorgen, daß innerhalb von drei Tagen ein anderer in Ihrem wundervollen Mahagonisessel sitzt.«
    Blin starrte ihn aus großen Augen an. »Sie überschätzen Ihre Kompetenzen, Pascin!«
    »Lassen Sie es darauf ankommen. Meinen Sie nicht, ein Wort an die Presse würde genügen? Weder das Journal, noch Le Matin mögen Sie besonders.«
    »Da geht’s mir wie Ihnen, Inspektor.«
    Pascin überhörte es und fügte mit einem höflichen Lächeln hinzu: »Was wird wohl Ihre reizende Gattin sagen, wenn ihr Mann ganz plötzlich wieder Clochards in einem Vorstadthospital versorgt?«
    Blin verschlug es die Sprache. Darbon unterdrückte ein Grinsen.
    »Ich möchte Sie nun freundlichst bitten, mir sämtliche Akten zu diesem Fall zu übergeben, Professor«, fuhr Pascin fort. »Über die Abschiebung des Mannes von London nach Paris, die Einlieferung, etwaige Fortschritte – alles!«
    Der Professor saß für mehrere Sekunden bewegungslos da und schwieg. In seinen Augen loderte ein unheilvolles Feuer. Die beiden Polizisten warfen sich einen Blick zu, dann rührte Blin sich plötzlich, zog eine Schublade auf und holte einen hohen Stapel mit Papieren hervor; die unteren waren gelb und brüchig.
    »Ich habe die Akten bereits herausgesucht«, sagte er tonlos.
    Darbon stand auf, griff nach dem Papierstapel und reichte ihn Pascin.
    Auf dem obersten Blatt stand in Blins feiner, geschwungener Handschrift ein englischer Name, und darunter, kleiner, ein schmaler Zusatz in Anführungszeichen: »Genannt: Jack the Ripper«.
     
    Am Abend des gleichen Tages stand Valerie auf der Bühne des Grand Guignol und schmetterte ihr »Wunderbar, Janos, Wunderbar!«, bevor sie in das Blutbad stieg und der Vorhang fiel. Nachdem der Beifall der Zuschauer abgeklungen war, verschwand sie gemeinsam mit den anderen in der Kulisse.
    »Hast du schon von dem Mord gehört, letzte Nacht?« fragte Henri, während er sich bemühte, im Gehen seinen künstlichen Buckel abzustreifen.
    »Ein Mord?« Valerie war nicht allzu erschüttert. Rund um den Montmartre geschahen ständig Verbrechen – Mord war nur eines davon –, und jeder, der hier lebte und arbeitete, wußte um die Gefahren, die in den verwinkelten Gassen und schmalen Straßen von Paris’ größtem Vergnügungsviertel lauerten.
    Mit einem angestrengten Stöhnen zwängte der Zwerg den hölzernen Buckelaufsatz unter seiner Kleidung hervor und streifte die Perücke ab. Dann nickte er.
    »Eines der Mädchen aus der Rue Bochart. ’Ne kleine Nutte, eine von den ganz billigen. Irgendein Kerl hat ihr die Kehle durchgeschnitten.« Er grinste morbide, fügte ein irres ›Janos‹-Kichern hinzu, und meinte dann mit schicksalsschwangerem Unterton: »Danach hat er irgendwas mit ihrem Bauch gemacht. Eine Mordssauerei.« Er gluckste.
    Valerie verzog das Gesicht. »Das gefällt dir, was?« Sie wischte sich mit ihrem Tuch ein paar blutrote Spritzer von der Wange.
    Der kleine Mann grölte, ruderte wild mit den Armen umher und hüpfte mit grotesken Beingrätschen auf und ab. »Ja, verrückt bin ich, verrückt, verrückt…!«
    Sie lachte und knuffte ihn freundschaftlich mit dem Knie. Der Kleine wurde ernst. »Tu mir einen Gefallen, ja?« sagte er. »Paß auf dich auf, wenn du nach Hause gehst.« Henri lächelte, aber die Sorge in seinen Augen war ernstgemeint.
    Valerie streichelte ihm dankbar über den großen Kopf. »Sicher«, versprach sie.
    Henri grinste, und mit einemmal war er wieder Janos, der Diener der

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