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Giebelschatten

Titel: Giebelschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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auf den Gang.
    »Kein Glück?« fragte er.
    »Kein Glück!« nickte Valerie.
    »Wie gestern.«
    »Und vorgestern.«
    »Vielleicht morgen?«
    »Vielleicht.« Sie lächelte geheimnisvoll, schenkte ihm ein letztes freundliches Nicken und drückte dann die Tür vor seiner Nase zu.
    »Das Blut von zwanzig Jungfrauen, um Eure Schönheit auf ewig zu erhalten«, zitierte Patrick mit gutmütigem Spott, dann hörte Valerie, wie sich seine Schritte auf dem Gang entfernten.
    Sie seufzte. Patrick war ein lieber Kerl, süß, aber albern wie ein kleines Kind. Er versuchte schon, sie für sich zu gewinnen, seit Maurey sie vor über einem halben Jahr in sein Ensemble aufgenommen hatte, und einmal hätte er es sogar fast geschafft. Seitdem war sie vorsichtig. Männer, die beinahe übermenschlich gut aussahen, waren ihr unheimlich.
    Valerie warf das Tuch in eine Ecke und stieg mit einem wohligen Stöhnen in die Wanne, die man für sie bereitgestellt hatte. Das heiße Wasser tat gut. Das Kunstblut löste sich in kleinen Schuppen von ihrer Haut, die wie schwerelose Rubine auf der Oberfläche tanzten.
     
    Die aufgehende Morgensonne tauchte das Panorama der Stadt in blutrotes Licht. Auf der Seine krachten Eisschollen mit infernalischem Bersten ineinander, das der Szenerie die Geräuschkulisse einer archaischen Seeschlacht verlieh. Das Fenster rahmte das Bild ein wie ein Kriegsgemälde, und Pascin, der mit hinter dem Rücken verschränkten Händen die eiskalte Winterluft einatmete, fühlte sich für einen Moment lang wie der Kapitän einer römischen Galeere.
    »Inspektor!« Die Stimme des Professors riß ihn aus seinen Tagträumen. Seine Vision von maritimem Schlachtgetümmel verblaßte innerhalb eines Sekundenbruchteils, und plötzlich stand Pascin wieder am Fenster des Anstaltszimmers, dessen durchdringender Geruch nach Bohnerwachs und Politur ihm den Atem raubte, trotz der frischen Luft, die von außen hereinströmte.
    »Würde es Ihnen etwas ausmachen, das Fenster zu schließen?« fragte der Professor. »Es ist Dezember.«
    Pascin verzichtete auf eine Antwort, tat aber, um was der Arzt ihn gebeten hatte.

    »Vielen Dank.« Professor Blin hockte hinter dem Schreibtisch seines Arbeitszimmers und erinnerte Pascin an eine übergroße Kaulquappe. Seine aufgedunsenen Züge schienen bei der kleinsten Bewegung zu vibrieren, wie ein Sack sterbender Fische auf dem Trockenen.
    »Da ich befürchten muß, daß Sie mir nicht zugehört haben, werde ich meine letzten Worte noch einmal wiederholen«, verkündete Blin.
    Darbon, Pascins Assistent, setzte zu einem Seufzen an. Der Professor warf ihm einen strafenden Blick zu, den der junge Polizist mit einem frechen Grinsen zurückwies.
    Blin wandte sich mißmutig an Pascin. »Inspektor, ich muß jede Ihrer Beschuldigungen weit von mir weisen. Gleiches gilt für die Mitarbeiter meines Instituts.« Sein linker Augenwulst zuckte. »Keinen meiner Angestellten trifft irgendeine Schuld am Verschwinden des Patienten. Ich möchte Sie darauf hinweisen, daß dies kein Gefängnis ist, sondern eine Anstalt, in der den Menschen geholfen werden soll.«
    Pascin nickte. »Geholfen haben Sie ihm gewiß«, brummte er böse.
    »Inspektor Pascin!« Blin richtete sich hinter seinem Schreibtisch auf. »Die Menschen, die man meiner Obhut unterstellt hat, sind krank. Krank im Geiste. Aber sie sind keine Tiere, die man für alle Zeiten unter Verschluß hält.«
    »Ich denke, in diesem Fall können wir eine Ausnahme machen«, knurrte Pascin. »Dieser Mann ist ein Tier! Und das wissen Sie mindestens ebenso gut wie ich.«
    Blin wollte etwas erwidern, doch Pascin schnitt ihm mit einer scharfen Geste das Wort ab. »Sie, Professor Blin, haben für das Verschwinden dieses Mannes geradezustehen. Es war Ihre Aufgabe, seine Sicherheitsverwahrung zu gewährleisten. Und Sie haben ihn in Ihrem Garten frei herumlaufen lassen, von nur einem einzigen Aufseher bewacht. Warum haben Sie ihm nicht gleich den Anstaltsschlüssel in die Hand gedrückt? Vielleicht mit einer kleinen Karte daran: Mach ’s gut, mein Freund!«
    Blin schnaubte aufgebracht. »Was erlauben Sie…«
    Pascin unterbrach ihn erneut. »Seien Sie still, Professor! Es hat in der letzten Nacht bereits einen Mord gegeben. Eine junge Hure, oben am Montmartre. Alles spricht dafür, daß Ihr Mann dafür verantwortlich ist.«
    »Haben Sie Beweise?« fragte Blin trotzig.
    »Keine, die Sie überzeugen würden. Aber wir alle wissen, was Ihr« – er schnitt eine Grimasse – »Patient vor

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