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Giebelschatten

Titel: Giebelschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Ihr war, als hätte sich mit einem Mal die Luft um sie herum in etwas Lebendiges, Warmes verwandelt, das über ihren Körper glitt und die Härchen auf ihrer Haut aufrichtete. Die Tanzenden vor den Fenstern wurden für Sekunden zu wirbelnden Farbklecksen, die sich wie ein rotierender Nebel um sie drehten, und als Curtis seine Lippen von den ihren zurückzog, wünschte sie sich nichts weiter, als daß er sie in seine Arme nahm.
    Doch er tat es nicht. Statt dessen grinste er sie an, fast wie ein kleiner Junge, dem gerade ein besonders gewagter Streich gelungen war, dann nahm er ihre Hand.
    »Kommen Sie, lassen Sie uns mitfeiern.«
    Valerie rührte sich nicht, sah ihn nur an.
    Sein Grinsen wurde noch breiter. »Seien Sie keine Spielverderberin, Valerie.« Ohne ihre Reaktion abzuwarten, öffnete er die Tür und zog an ihrer Hand. Die Musik und das Lachen und Singen der Menschen schwemmten herein und weckten sie aus ihrer Erstarrung. Sie lächelte zurück, sprang hinter Curtis auf die Straße und wurde in Sekunden von der umgebenden Fröhlichkeit aufgesogen. Sie ließen den fluchenden Kutscher hinter sich zurück, lachten, tanzten und johlten mit der Menge und taumelten im Strudel der hemmungslosen Heiterkeit. Das dichte Gewühl machte sie zu Verbündeten, zu zwei Kindern in einem lärmenden Dschungel aus Masken und Klängen, einem Crescendo des Frohsinns und der Freude, das sie alles vergessen ließ und ihre Gedanken mit jubelnden Kapriolen erfüllte. Nur wenige Minuten später standen sie engumschlungen im Schatten einer schmalen Gasse und liebten sich, verbunden in ihrem eigenen lodernden Rhythmus, der den Winter und die tobenden Menschen auslöschte, zwei dampfende, ekstatische Leiber, an denen das Leben tanzend vorüberzog und die es dabei in sich aufsogen, mit der ganzen verzweifelten Kraft ihres Fleisches.
     
    Es hatte wieder zu schneien begonnen, als sie das Haus erreichten, in dem Valerie ihre winzige Wohnung unterhielt, ein altes Backsteingebäude mit drei Stockwerken und hellen Fensterläden, die vor nicht einmal zwei Monaten frisch gestrichen worden waren. Irgendwo in der Ferne schlug eine Kirchenglocke einmal für die erste volle Stunde nach Mitternacht. Dicke, trockene Schneeflocken schwebten wie kleine Wattesterne vom Himmel und umwebten sie mit flauschigen Vorhängen, als sie sich voneinander verabschiedeten.
    »Bleib hier«, bat Valerie. Sie hatte ihm das gleiche Angebot innerhalb der letzten halben Stunde mehr als einmal gemacht, doch Curtis hatte es jedesmal höflich, aber entschieden abgelehnt.
    »Sag mir, was du um diese Zeit noch zu tun hast«, forderte sie und zwickte ihn spielerisch in die Seite. Eine gewaltige Schneeflocke segelte auf seine Nase und blieb haften. Valerie prustete los.
    »Psst!« zischte er und grinste ebenfalls. »Wenn deine Vermieterin uns hört…«
    »Die ist fünfundachtzig«, unterbrach sie ihn, »fast taub und wohnt am Place Vendome. Das ist kilometerweit entfernt.« Sie küßte den Schnee von seiner Nasenspitze. »Nun komm schon mit rein.«
    Curtis schüttelte sanft den Kopf. »Es geht nicht, glaub mir. Ich komme wieder, wenn du es willst, noch heute nacht. Aber ich muß noch mal fort.«
    »Sag mir wenigstens, warum.«
    »Probleme mit meinen Bediensteten.«
    »Bedienstete?« Sie riß ungläubig die Augen auf.
    »Mein Haus ist ziemlich groß, und wenn ich fort bin, macht das Personal, was es will.«
    Valerie senkte ihren Blick. »Es ist deine Frau, nicht wahr?«
    »Meine Frau?« stieß er fassungslos aus. Dann lachte er, hob sanft ihr Kinn und sah ihr in die Augen. »Valerie, du bist verrückt. Völlig verrückt. Ich bin nicht verheiratet. Wie kannst du glauben, daß ich…« Er verstummte und schüttelte den Kopf. »Nein, es ist keine Frau. Nur ein paar verrückte Angestellte, die gerade mein Haus auf den Kopf stellen.«
    Valerie sah ihn fest an, auf ihrer Stirn erschien eine tiefe Sorgenfalte. »Ich glaube dir nicht.«
    Er nahm sie in seinen Arm, drückte sie fest an sich und flüsterte in ihr Ohr: »Ich bin in zwei Stunden wieder da. Spätestens in drei. Ich versprech’s dir.«
    Verstehst du nicht, daß du alles kaputtmachst, wollte sie schreien. Wenn du jetzt lügst, ist es vorbei, bevor es überhaupt angefangen hat.
    Aber statt dessen nickte sie nur, ließ ihn los und wollte sich zur Tür umdrehen. Doch Curtis zog sie an der Schulter herum, umarmte und küßte sie. Und im gleichen Moment wußte sie, das es nicht vorbei war, nicht vorbei sein durfte. Nicht so, nicht

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