Gier (Ein Paul-Kalkbrenner-Thriller) (German Edition)
So stand es ihr besser, weil sie dadurch nicht so streng wirkte und die Frisur ihr auch etwas von der Traurigkeit nahm.
Eigentlich
, stellte er fest,
sah sie aus wie vor 20 Jahren.
Er zeigte ihr das Haus. Es gab eine Wohnstube mit Radio, Fernseher und einem kleinen Kamin. In einem der beiden Schlafzimmer lag noch Kinderspielzeug von Jessy. Eine Kiste mit Playmobil. Ein Puppenwagen. Eine Barbie. An der Wand ein Poster mit den Spice Girls
. Wannabe.
Er konnte nicht glauben, dass schon
so
viel Zeit seit dem letzten Aufenthalt verstrichen war.
In dem anderen Schlafzimmer lag Bettwäsche im Schrank. Sie roch muffig und war voller Spinnen und anderer Krabbeltiere, was ihm peinlich war. Judith beruhigte ihn: »In der Küche steht doch eine Waschmaschine. Funktioniert sie?«
»Wenn der Kalk sie nicht zerfressen hat.«
»Dann werde ich erst einmal waschen.«
»Meinst du, du hältst es hier für ein paar Tage aus?«
»Ich fühle mich hier auf jeden Fall sicherer als bei mir zu Hause.«
»Und wenn was ist, rufst du mich an.«
Sie hielt das neue Handy hoch. »Auf jeden Fall.«
»Kann ich sonst noch etwas für dich tun?«
»Du hast schon mehr für mich getan, als ich erwarten konnte.« Sie hob die Hand, ihre Finger streiften seine Wange. Nur ganz kurz, eine sanfte Berührung. »Danke.«
Sie nahm ihn am Arm, schob ihn zur Tür. »Aber jetzt musst du gehen. Deine Tochter wartet.«
Bevor er die Autotür hinter sich zuschlug, versprach er: »Ich komme morgen wieder vorbei.«
Sie winkte ihm zum Abschied. So wie Ellen ihm gewunken hatte, damals, wenn er während eines ihrer Urlaube die Datsche hatte verlassen müssen. Zum Einkaufen. Oder um für ein paar Tage nach Berlin zu fahren.
Zuletzt waren sie vor zwei oder drei Jahren hier gewesen. Jessy war damals in Berlin bei ihren Freunden geblieben, weil sie sich mittlerweile zu alt für einen Urlaub mit ihren Eltern gefühlt hatte, aber auch, weil sie deren ständigen Streit nicht mehr hatte ertragen können.
Diese Zeiten waren jetzt vorbei. Alles würde wieder in Ordnung kommen. Als knüpfte die Gegenwart nahtlos an die Vergangenheit an. Er sah noch einmal in den Rückspiegel. Nur dass es nicht Ellen war, die ihm jetzt winkte.
71
In der Zelle stank es unerträglich nach Exkrementen. Sooft Dossantos auch die Spülung der Toilette betätigte, die in den Boden eingelassen war, der beißende Gestank wollte nicht weichen.
Unverrichteter Dinge setzte er sich aufs Bett. Aber hier war der Geruch noch schlimmer. Mit der Hand fuhr er über das Laken, hielt sich dann die Finger unter die Nase und sprang angewidert auf.
Wie ekelhaft!
Der Insasse vor ihm hatte seine Notdurft auf dem Bett verrichtet, und ganz offensichtlich war die Matratze seitdem noch nicht gereinigt worden.
Verfickte Scheiße!
Jetzt war auch noch sein Anzug ruiniert. Er hockte sich gegen die raue Betonwand und befeuchtete sich die spröden Lippen. Er hatte Durst. Seine Kehle war ausgetrocknet. Doch niemand schien es für nötig zu halten, ihm etwas zu trinken zu bringen, und aus dem kleinen Hahn über dem Waschbecken wollte er kein Wasser trinken. Bei dem Gedanken an die Bakterien, die dort nisteten, wurde ihm ganz schlecht.
Er wusste nicht, wie viele Stunden schon vergangen waren. Bei seiner Einlieferung in die Vollzugsanstalt Moabit hatte man ihm neben den Goldketten, der Krawatte und dem Gürtel auch seine Rolex abgenommen. Nur durch das kleine, vergitterte Fenster knapp unterhalb der Decke konnte er sehen, dass inzwischen der Abend angebrochen war. Schwarze Schatten klebten an der Wand, düster und bedrohlich.
Er wollte sich von der Justiz nicht einschüchtern lassen. Schon oft hatte man versucht, ihn hinter Schloss und Riegel zu bringen – immer erfolglos. Er war ein Siegertyp. Ja, das war er. Immer noch.
Dennoch war heute etwas anders. Er wusste nicht einmal, woran genau er dieses Empfinden festmachen konnte. War es der Tod seines Sohnes vor gerade erst einem Tag? War es das siegessichere Grinsen, das dieser Mistkerl von Harenstett zur Schau getragen hatte?
Irgendwann musste er doch eingenickt sein. Er erwachte mit einer Melodie im Kopf.
La Folia.
Für einen Moment gab er sich den Harmonien hin. Er hielt die Augen geschlossen, begann zu summen und zu träumen und vergaß seine Zweifel, seine Sorgen. Er kehrte in seine Kindheit zurück, als die Mutter ihm zum Trost Lieder vorgesungen hatte. Ihm, dem kleinen Jungen, der sich so hilflos und allein in dem neuen, fremden Land gefühlt hatte.
Er erschrak,
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