Gier (Ein Paul-Kalkbrenner-Thriller) (German Edition)
Erst kommst du zu spät zur Sitzung, jetzt unterbrichst du sie in der wichtigen Phase kurz vor der Abstimmung.« Er wies auf das Handy in von Hirschfeldts Hand. »Außerdem hatten wir vereinbart, dass die Telefone ausgeschaltet bleiben.«
»Können wir das später besprechen? Ich muss sofort weg.«
»Das ist jetzt nicht dein Ernst?«
»Ich sagte doch schon, es ist wichtig.«
Wild gestikulierte Heiland in Richtung Sitzungssaal. »Was kann es denn im Augenblick Wichtigeres geben als das da drinnen?«
Von Hirschfeldt legte seinem Freund die Hand auf die Schulter. »Das kann ich dir leider nicht sagen. Noch nicht.«
»Was soll die Geheimniskrämerei?«
»Vertrau mir.«
»Ich hoffe für dich, dass du gute Gründe hast.«
»Und ob ich die habe.« Von Hirschfeldt strahlte übers ganze Gesicht. »Schon morgen früh wirst du in den Verhandlungen um die Senatorenämter gegenüber den liberalen Fritzen ganz anders argumentieren können. Denn dann werden wir bewiesen haben, dass wir nicht nur reden und um Prozente feilschen, sondern längst handeln!«
Im Konferenzraum machten sich die Kollegen derweil über die belegten Brote her. Berthold Ehrenstein, der künftige Bausenator, winkte ihnen mit einem Salamischnittchen. Der Verhandlungsführer der FDP schlürfte eine Fanta durch einen Strohhalm. »Und was soll ich den
liberalen Fritzen
bis dahin erzählen?«
»Du bist der neue Bürgermeister. Lass dir was einfallen.«
70
Felder und Wiesen, so weit das Auge reichte. Schwer zu glauben, dass sie die Stadtgrenze erst vor einer Viertelstunde passiert hatten. Aber eigentlich war Berlin nur ein lärmender Moloch in einem noch gewaltigeren Universum der Stille: der Mark Brandenburg.
Irgendwann, kurz hinter einem gelben Briefkasten, der völlig verloren am Straßenrand stand, bog Kalkbrenner von der Hauptstraße auf einen holprigen Feldweg ab. Nach fünf Minuten vorbei an dicht stehenden, hohen Pappeln gelangten sie an eine schmale Brücke, die über einen Bach führte. Dahinter endete der Weg abrupt. Auf einer kleinen Lichtung wucherten ungezähmt Sträucher und Büsche und verdeckten beinahe komplett das winzige Backsteingebäude.
Vögel zwitscherten. Grillen zirpten. Hinter dem Haus plätscherte ein kleiner Wasserlauf. Sie lauschten der Natur, deren Geräusche den Eindruck von Frieden und Sicherheit vermittelten.
Das nächste Haus lag vier Kilometer entfernt, der nächste Ort sogar noch mehr. Während der wenigen Male, in denen er in der Datsche gewesen war, hatte Kalkbrenner es als beachtlich empfunden, dass das Gebäude überhaupt fließend Wasser und Strom besaß. Einen Telefonanschluss gab es dagegen nicht.
Er ging zu einem kleinen Rondell aus Steinen. In der Mitte klaffte ein tiefes Loch im Boden – ein Brunnen, der im Sommer frisches Grundwasser zum Duschen und Baden lieferte. Viele der Steine waren brüchig. Er hob mehrere an, bevor er den Schlüssel fand.
Damit entriegelte er die Tür, deren Angeln beängstigend quietschten. Sie trugen ihre Taschen in die Datsche, danach schleppte er Nahrungsmittel und Getränke hinein, die sie unterwegs in einem Supermarkt gekauft hatten: Nudeln, Saucen, Brot, Aufschnitt, ein paar Säfte. Und Wein. Kummertrunk
.
Drinnen war es düster. Es roch vermodert. Schon lange hatte hier niemand mehr gelüftet.
»Wem gehört das Haus?«, wollte Judith wissen.
»Meiner Frau. Wir verbringen hier gelegentlich unseren Urlaub.«
Er zog die Rollläden hoch, und das einfallende Licht enthüllte eine fingerdicke Staubschicht auf den Möbeln. Judith strich mit dem Finger hindurch. »Ist wohl schon lange her.«
Er beugte sich unter die Spüle, um die Wasserleitung zu entsperren. Im Flur drehte er die Sicherung für den Strom ein, dann begann er, die Esssachen in die Schränke zu räumen. Judith half ihm. »Und wie steht es um
deine
Ehe?«
»Besser.«
»Besser?«
»Es gab schon schlechtere Zeiten.«
Mit einer Packung Nudeln in der einen und einem frischen Brot in der anderen Hand stellte Judith sich vor ihn. »Bist du sicher, dass es für sie in Ordnung ist, dass ich hier einziehe?«
»Es ist ein Notfall.«
»Aber ich bin deine …« Sie vollendete den Satz nicht.
»Jugendliebe? Wolltest du das sagen?«
Sie nickte scheu.
»Aber das ist über 20 Jahre her.«
Sie machte einen Schritt auf ihn zu. Noch immer hielt sie das Brot und die Nudeln in der Hand. »Mir kommt es so vor, als wäre es gestern gewesen, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben.«
Sie trug ihr Haar wieder offen.
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