Gier (Ein Paul-Kalkbrenner-Thriller) (German Edition)
als die Zellentür mit einem ohrenbetäubenden Quietschen geöffnet wurde. Für einen Moment verlor er das Gleichgewicht und drohte auf den Boden zu stürzen. Zwei Polizisten fingen ihn auf. Sie hievten ihn zurück auf seine Füße, legten ihm Handschellen an und führten ihn einen Gang entlang, vorbei an anderen Zellen. Vergitterte Türen öffneten und schlossen sich wieder, nachdem er sie passiert hatte. Schließlich kam er in ein hell erleuchtetes, fensterloses Zimmer: den Besucherraum. An einem schmalen Tisch saß Claudio.
Mit knackenden Gelenken nahm Dossantos ihm gegenüber Platz. »Kennst du
La Folia
?«
»Was?«, entgegnete sein Anwalt verwundert.
»Das ist ein portugiesischer Volkstanz.«
»Miguel, geht es dir gut?«
Dossantos schwieg. Er war sich nicht sicher, ob er sich darüber freuen sollte, dass er sich ausgerechnet jetzt an die Melodie erinnert hatte. »Was wirft man mir vor?«
»Das weißt du nicht? Hat man dir nicht den Haftbefehl ausgehändigt?«
»Ich habe ihn zerknüllt und weggeworfen!«
»Du hast was?«
»Ist doch egal. Viel wichtiger ist: Was haben sie gegen mich in der Hand?«
»Das kann ich dir noch nicht sagen.«
»Habt ihr in der Kanzlei geschludert?«
»Ich bitte dich, du weißt, dass wir die Kanzlei aus solchen Sachen raushalten.«
»Die Sache stinkt zum Himmel!«
»Und du stinkst nach Scheiße.«
»Ein Grund mehr, mich schleunigst hier rauszuholen!«
Claudio sagte keinen Ton. Vor der Tür wurden Stimmen laut. Zwei Männer traten in den Raum. »Ah, Herr Dossantos, was für ein Zufall. So schnell sieht man sich wieder.« Einer der beiden Männer, die sonnengebräunte Gestalt, trug das Lächeln eines Siegers.
72
Kalkbrenner quälte sich durch den Feierabendverkehr stadteinwärts auf dem Berliner Ring, als Ellen ihn zurückrief. »Paul, das Wetter ist so wunderbar!«
Sie war außer Atem, war offenbar gerade erst zur Tür reingekommen. Im Hintergrund hörte er ein klägliches Kläffen. »Warst du mit Bernie draußen?«
»Wir sind fast drei Stunden durch die Wälder gestromert.« Sie alberte mit dem Bernhardiner herum. »Du hättest ihn erleben sollen. Es hat ihm richtig Spaß gemacht. Und mir auch. Schade, dass du nicht dabei warst.«
»Morgen«, versprach er, »morgen nach dem Aufstehen begleite ich euch.«
»Das wird Bernie bestimmt gefallen.« Wieder sagte sie etwas zu dem Vierbeiner, dann lachte sie laut. »Und mir auch.«
Aus dem Autoradio dudelte
Times they are a-changin’
von Bob Dylan. Nicht unbedingt so gut wie Deep Purple, aber nahe dran. Ende der 70er Jahre hatte er dazu erste sexuelle Erfahrungen mit Judith gesammelt. Eines seiner kleinen Polizei-Helferlein schaltete sich ein:
Der Zufall treibt manchmal ein merkwürdiges Spiel
. Doch hierbei ging es nicht um seinen Job? Oder etwa doch?
»Weswegen hast du angerufen?«, fragte Ellen.
Plötzlich hatte er Bedenken. Er wollte ihr die gute Laune nicht verderben. »Ich wollte nur mal hören, wie es euch beiden so geht.«
»Oh, prächtig. Bist du heute zum Abendessen da?«
Die Uhr am Armaturenbrett zeigte 17.30 Uhr. »Nein, leider nicht. Ich bin mit Jessy zum Essen verabredet.«
»Das ist schön. Grüß sie von mir.«
»Mach ich.«
»Bis heute Abend.«
»Bis heute Abend.« Sie legte auf.
Inzwischen sang Bon Jovi
Lie to me,
nicht gerade die ideale Begleitmusik für Kalkbrenner. Er beruhigte sich damit, dass es aus professioneller Sicht sogar besser war, wenn so wenig Leute wie nur möglich über Judiths gegenwärtigen Aufenthaltsort Bescheid wussten. Er rief im Pflegeheim an und ließ sich mit Pfleger Peer verbinden.
»Der Ausflug gestern hat Ihre Mutter ziemlich angestrengt«, erklärte der. »Noch dazu der Regen. Sie ist ein bisschen erkältet.«
»Erkältet?«
»Es ist alles okay, keine Sorge. Aber sie schläft sehr viel.«
»Gut«, sagte er erleichtert.
»Sie hat übrigens einige Male nach Ihnen gefragt.«
Es rührte Kalkbrenner, das zu hören. »Sagen Sie ihr, ich komme morgen vorbei.«
Berger saß auf der Kante von Ritas Schreibtisch und hielt sich mit leidender Miene die Wange. Die Sekretärin sprang von ihrem Stuhl auf, als Kalkbrenner eintraf. Auch heute trug sie einen Wickelrock, diesmal in schrillem Pink. Passend dazu hatte sie eine lilafarbene Brosche an ihre Rüschenbluse geklemmt. Mit der gleichen Leidenschaft, mit der sie Nusskuchen backte, sammelte sie Anhänger und Broschen. »Mensch, Paul, wo hast du gesteckt?«
»Ein Notfall«, entschuldigte er sich.
Berger löste die Hand von
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