Gier (Ein Paul-Kalkbrenner-Thriller) (German Edition)
Zimmer mit Computer irgendwo am anderen Ende der Welt.
Block klappte den Laptop zu und lehnte sich zufrieden zurück. Die Kellnerin trat an seinen Tisch, um abzukassieren. Obwohl die Sonne inzwischen ganz verschwunden war, verspürte er Lust auf einen Spaziergang. Die Museumsinsel schien ihm ein geeignetes Ziel zu sein.
Er ließ die herrschaftlichen Bauten auf sich wirken. Das Alte Museum erhob sich majestätisch mit seinem klassizistischen Säulenportal. Seine Erhabenheit übertrug sich auf Block. Er fühlte sich stark. Unbezwingbar. Nein, er hatte gestern nicht gelogen: Er war glücklich, zum ersten Mal in seinem Leben war er glücklich.
Und er wollte alles daransetzen, dieses berauschende Gefühl nie wieder zu verlieren. Deshalb hatte er geschickt seinen Plan entworfen. Wer hätte es besser gekonnt als er? Sein Vorhaben war perfekt, von einigen Kleinigkeiten mal abgesehen, die er aber schon längst aus der Welt geschafft hatte.
Letztlich waren diese kleinen Unannehmlichkeiten nur ein Grund mehr gewesen, alles zügig in die Tat umzusetzen. Er durfte nicht allzu viel Zeit verstreichen lassen. Nur noch wenige Tage. Samstag.
Er wählte einen der abgelegeneren Wege am Rande der Insel. Die rußgeschwärzten Wände der Alten Nationalgalerie hinter sich lassend, schlenderte er den Säulengang an der Spree entlang.
Er schaute nach links, nach rechts. Er war allein. Wie zufällig glitt ihm der Laptop aus der Hand. Ein kurzes Platschen, gefolgt von einem leisen Gluckern. Als die nächsten Touristen um die Ecke bogen, hatte sich die Wasseroberfläche bereits wieder geglättet.
Block griff zum Handy und wählte eine Nummer. Statt des erhofften Freizeichens hörte er die mechanische Ansage:
Der Teilnehmer ist im Augenblick nicht erreichbar.
Er ließ ein paar Momente verstreichen und versuchte es erneut. Doch das Mobiltelefon war anscheinend nach wie vor ausgeschaltet.
Gab es einen Grund zur Sorge?
Nein,
beruhigte er sich.
Sie war besonnen.
Vorsichtig wie er.
Ich lasse mich in Sicherheit bringen.
Sie würde schon darauf achten, dass ihr nichts geschah. Es gab nichts mehr, was sie noch aufhalten konnte.
92
Das Licht des Kaminfeuers umhüllte sie, aber Judith fror. Sie zog die Beine an den Körper, umschlang sie mit ihren Armen. »Es war ein Dreivierteljahr nach unserer Trennung. Ich hatte mich an der Hochschule der Künste beworben und war angenommen worden.« Sie wirkte klein und zerbrechlich, als sie das sagte.
Nachdenklich zeichnete sie mit dem Finger kleine Kreise in das Sofapolster. Draußen gewann der Gewittersturm an Stärke und peitschte den Regen laut gegen die Fenster.
»Dann, zwei Monate, bevor mein Studium begann, fuhr ich mit der S-Bahn zur Pizzeria, in der ich damals jobbte. Ich bekam Kopfschmerzen. Erst einmal nicht sehr stark, aber dann wurden sie immer schlimmer. Das Ende der Fahrt erlebte ich schon nicht mehr bei Bewusstsein. Ich erwachte auf der Intensivstation – mit Dutzenden von Kanülen und Schläuchen an und in meinem Körper. Du weißt, wie sehr ich Nadeln hasse. Mehrmals täglich bekam ich Spritzen. Etliche Dosen Kortison. Bald waren meine Venen an den Armen verschorft und verknorpelt, also nahmen sie meine Füße, die Hände und den Hals. Tag für Tag, Woche für Woche. Eine Tortur. Noch mehr Stiche. Noch mehr Schmerzen.«
»Warum hast du mir nicht Bescheid gesagt?«
»Ich weiß es nicht. Ich wollte nicht. Wir hatten uns gerade erst getrennt. Ich dachte, du willst es vielleicht nicht. Ich hatte schon genug zu leiden. Da wollte ich nicht noch eine Enttäuschung.«
Kalkbrenner streichelte ihr durchs Haar. Ein Blitz erhellte für Bruchteile von Sekunden die Dunkelheit draußen, kurz darauf brachte ein Donnern die Erde zum Beben. »Wie ging es weiter?«
»Eines Tages reichte es mir. Ich war erschöpft und mit den Nerven vollkommen am Ende. Alles schmerzte. Ich heulte und tobte und wollte nicht mehr, dass der beschissene Arzt mich erneut mit seiner beschissenen Nadel malträtierte. Doch er brach meinen Widerstand und jagte mir die nächste Kanüle unter die Haut. Das Gleiche am nächsten Tag. In der nächsten Woche. Im nächsten Monat. Es ging immer weiter. Egal, was ich auch tat, es ging weiter. Es passierte, und ich konnte nichts dagegen tun. Neun verfluchte Monate lang.«
»Aber warum das alles?«
»Ich hatte eine Gefäßmissbildung, die unbemerkt seit meiner Geburt in meinem Hirn gewachsen war. Eigentlich fällt sie erst auf, wenn sie platzt. Oder niemals. Es gibt Menschen, die
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