Gier (Ein Paul-Kalkbrenner-Thriller) (German Edition)
er mit dem Taxi zu Verabredungen gefahren?«
»Er mochte U- und S-Bahnen nicht so sehr. Dieser Lärm, dieser Stress, das Gedränge … Er sagte immer, das erinnere ihn an die Schule.«
»Einen Tag vor seinem Tod, am Montag, hat er da ein Taxi gerufen?«
»Ich weiß nicht.«
»Hatte er einen Termin? Versuch dich bitte zu erinnern.«
»Stimmt, ich glaube, er ist abends noch mal weggegangen.«
»Hat er gesagt, wohin er wollte?«
Sie überlegte konzentriert mit zusammengekniffenen Augen. »Es fällt mir nicht ein.«
»Hat dein Mann jemals Samuel Dossantos erwähnt?«
Judith zuckte zusammen. »Wen?«
Ihre Reaktion irritierte ihn. »Kennst du ihn?«
»Natürlich«, brachte sie mühsam hervor. »Über ihn haben sie doch heute im Radio berichtet.«
»Nein, das ist Miguel Dossantos. Samuel ist sein Sohn. Er wurde am Sonntag umgebracht. Vermutlich vom gleichen Täter wie dein Mann.«
»Hat Matthias etwa …?« Judiths Augen weiteten sich. »Sag mir, dass das nicht wahr ist.«
Er schob seine Hand vor, umschloss ihre Finger. »Es tut mir leid.«
»Das kann ich nicht glauben. Was soll Matthias mit diesem …?«
»Ich wünschte, ich könnte dir eine Antwort geben, aber ich kenne sie nicht. Noch nicht.«
»Paul, ich verstehe das nicht. Ich weiß nicht mehr, was ich denken oder glauben soll.« Sie verschluckte sich an ihren Worten und hustete. Ihr Gesicht lief rot an. »Ich dachte, ich kenne meinen Mann. Ich gebe zu, es war nicht mehr alles so wie am Anfang. Ja, wir hatten Probleme. In welcher Ehe gibt es die nicht? Aber jetzt …« Eine Träne rann aus ihrem linken Auge. »Jetzt kommt er mir plötzlich so fremd vor. Beinahe fremder, als du es für mich bist.« Sie hob fassungslos die Hand vor den Mund. »Und wir haben uns 20 Jahre nicht mehr gesehen!«
Tränen rannen nun in endlosen Strömen ihre Wangen hinab. Sie barg ihren Kopf an seiner Schulter.
Ich tröste sie nur,
dachte er. Es fühlte sich nicht richtig an, dennoch hielt er sie fest, bis sie sich beruhigt hatte. »Danke«, sagte sie schließlich.
Der Moment glich dem mit Ellen auf verwirrende Weise. Kalkbrenner nahm einen Schluck vom Wasser und sah zum Fenster hinaus. Auf dem Land entluden sich die Gewitter mit besonderer Heftigkeit. Der Sturm peitschte die Baumkronen. Obwohl es erst Nachmittag war, lag die Lichtung beinahe vollkommen im Dunkeln. Finsternis schlich sich in das Wohnzimmer. Nur die zuckenden Flammen im Kamin erhellten den Raum.
»Paul, warum?« Judiths Stimme bebte. »Warum das alles? Mein ganzes Leben ist plötzlich …« Sie rieb sich die Augen. Ihre Fingernägel waren schwarz lackiert. Sie hatte schon damals diese Farbe gemocht. »Ich hab mir mein Leben immer anders vorgestellt.«
»Ich weiß.«
»Natürlich weißt du das. Du weißt sehr viel über mich.« Ihre Augen verrieten Schwermut. »Aber es gibt so vieles, was du noch nicht weißt.«
»Nun, 20 Jahre sind eine lange Zeit«, erwiderte er, und das Kaminfeuer knisterte laut. Die Flammen warfen züngelnde Schatten an die Wand. »Menschen verändern sich.«
»Du sprichst wieder von dir selbst, oder?«
Ja,
aber es betraf auch sie. »Nein, ich meinte dich. Ich hätte nie gedacht, dich noch mal in Deutschland anzutreffen. Nicht verheiratet, mit einer Eigentumswohnung und Kinderwunsch. Das passt alles nicht zu dir.«
»Das sagt genau der Richtige!« Neckisch stupste sie ihn an. »Du bist auch Ehemann und Vater geworden. Dabei wolltest du die Welt retten.«
»Das mache ich doch.«
»Du«, sagte sie und bohrte ihren Finger in seine Brust, »du kommst immer erst dann, wenn es schon zu spät ist.«
Betroffen schwieg er.
»War nicht so gemeint«, flüsterte Judith. Das Feuer im Kamin wurde schwächer, hüllte sie in Dunkelheit. Plötzlich war es, als sei sie ganz weit weg von ihm. Ihre Stimme drang aus dem Zwielicht zu ihm. »Kannst du dich noch an unseren Urlaub erinnern?«
»Und ob. Du wolltest unbedingt nach Barbados.«
»
Wir
wollten dahin.« Sie ging zum Kamin und warf ein Holzscheit nach. Funken stoben auf. Als sie sich zurück auf das Sofa setzte, war sie wieder ganz nah.
Sie hatten beide nach Barbados gewollt. Judith war auf der Insel geboren, in einer Stadt mit dem eigenwilligen Namen The Crane. Mit ihrer Familie – ihr Vater hatte als Sekretär für die dortige deutsche Botschaft gearbeitet – war sie an der Ostküste nahe Sam Lord’s Castle aufgewachsen, bevor sie nach Deutschland gekommen waren, wo ihre Eltern bald darauf bei einem Autounfall gestorben waren.
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