Gier (Ein Paul-Kalkbrenner-Thriller) (German Edition)
werden mit einem Angiom 80 Jahre alt und entschlafen schließlich glücklich und in Frieden, ohne je von ihrem kleinen
Dachschaden
erfahren zu haben. Bei anderen wiederum platzt plötzlich das Blutgefäß. Dann staut sich das Blut im Kopf, kann nicht ablaufen und drückt auf das Gehirn. Wenn es anfängt wehzutun, ist meistens auch schon Feierabend. Noch bevor man überhaupt erfährt, was Sache ist. Es sei denn, es ist zufällig rechtzeitig ein Arzt zur Stelle. Der kann fürs Erste das Schlimmste verhindern und einen, sozusagen ganz nebenbei, darüber informieren, dass man an einem sogenannten Angiom leidet.«
»Bei dir war ein Arzt in der Nähe?«
»Ja, in der S-Bahn. Nach den neun Monaten im Krankenhaus war die Gefahr aber noch immer nicht gebannt. Die Blutung im Hirn konnte jederzeit wieder beginnen. Ob ich leben oder sterben würde, entschied sich bei der Bestrahlung. Man verlegte mich ins Krebsforschungsinstitut, wo man mir sagte, dass der Zeitraum, den der Gefäßklumpen in meinem Schädel nach der Bestrahlung brauchen würde, um zu heilen, sich auf bis zu fünf Jahre erstrecken könne.«
»Judith, das tut mir alles so leid.«
»Das braucht es nicht.« Sie rückte näher an ihn heran und lehnte sich gegen seinen Arm. Das Feuer im Kamin brannte langsam herunter. Zwielicht erfüllte den Raum. »Es war ja nicht deine Schuld.«
Für einen Moment schwiegen sie und lauschten dem Knistern, mit dem die Flammen das letzte Holz verzehrten.
»Im Krebsforschungszentrum lernte ich Matthias kennen. Sein Bruder war dort Patient. Matthias war …« Ein Schatten glitt über ihr Gesicht. Da war noch etwas, das sie belastete, aber worüber sie nicht reden konnte. Oder wollte. Kalkbrenner bedrängte sie nicht. »Matthias war mir in diesen und den nachfolgenden Monaten eine große Hilfe. Als ich wieder einigermaßen gesund war, gingen wir miteinander aus. Und irgendwann waren wir verheiratet.«
»Das klingt so pragmatisch.«
»Wirklich? Vielleicht war es das. Später hat Matthias die Eigentumswohnung in Treptow gekauft. Wir wollten Kinder. Das alles war nicht spektakulär, aber es war ein Leben. Leben teilen. Leben erleben. Weißt du, was ich meine?«
Er war sich nicht sicher, ob er sie verstand. »Du warst also glücklich«, stellte er fest.
»Ja, das war ich. Glaube ich zumindest.« Das Kaminfeuer war inzwischen fast erloschen. Sie saßen in der Dunkelheit, nur gelegentliche Blitze erhellten den Raum. »Aber dann entwickelte sich alles in die falsche Richtung. Es war …« Sie rückte noch etwas näher an ihn heran. »Nein, eigentlich will ich darüber nicht mehr reden. Ich weiß nicht einmal, ob ich noch zu Matthias’ Beerdigung am Samstag möchte. Am liebsten würde ich sofort in einen Flieger steigen und abhauen.« Judith ballte die Hände. »Paul, wären wir doch damals bloß verschwunden!«
Den Gedanken konnte er ihr noch nicht mal verübeln. Was wäre gewesen, wenn sie vor 20 Jahren tatsächlich gemeinsam nach Barbados geflogen wären? Wäre ihre Krankheit dann nicht ausgebrochen? Niemand konnte das mit Bestimmtheit sagen. Aber für ihn, Kalkbrenner, wäre sicherlich vieles anders verlaufen. Er wäre kein Polizist geworden, hätte nicht täglich mit Mord und Gewalt zu tun. Aber dann hätte er auch Ellen nie kennengelernt. Und es hätte Jessy nie gegeben.
Als wenn du in den letzten Jahren so viel von ihr mitbekommen hättest.
Das war gehässig, ließ sich aber nicht leugnen; es war schließlich noch gar nicht so lange her, dass er die Entdeckung hatte machen müssen:
Sie ist erwachsen geworden, unsere Tochter. Erschreckend, oder? Als hätten wir nichts davon mitbekommen.
Die Flammen im Kamin erloschen mit einem Zischen. Jetzt funkelte nur noch die Glut. Judith lehnte sich an Kalkbrenner. Es war nicht verkehrt. Es war in Ordnung. So saßen sie eine Weile in der Dunkelheit, lauschten dem Grollen und beobachteten das blitzende Lichterspiel draußen vor dem Fenster.
Irgendwann drehte sich Judith zu ihm um. »Danke«, sagte sie.
»Wofür?«
»Dass du mir zuhörst.«
Sie schlang den Arm um ihn und hielt ihn fest. Etwas quietschte. Die Tür ging auf. Kalkbrenner griff erschrocken zur Jacke. Seine SIG Sauer. Sein Arm erlahmte auf halbem Weg, als er eine bekannte Stimme hörte. »Nanu? Warum ist denn die Tür nicht verriegelt?«
93
Dossantos wurde die Bilder der vergangenen Tage auch während der Fahrt ins
Apollo
nicht los. Er beugte sich zu seinen beiden Leibwächtern vor. »Bruno, Robert, ihr habt meinen Sohn
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