Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gier (Ein Paul-Kalkbrenner-Thriller) (German Edition)

Gier (Ein Paul-Kalkbrenner-Thriller) (German Edition)

Titel: Gier (Ein Paul-Kalkbrenner-Thriller) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Krist
Vom Netzwerk:
Eine tragische Geschichte.
    Immer wieder hatte Judith ihm von ihrem Wunsch erzählt, auf die Insel zurückzukehren. Nach The Crane, wo das Elternhaus stand, von dem man auf die rauschende Brandung des Harrismith Beach blicken konnte. Sie hatte ihm Fotos gezeigt und Geschichten von ihren Eltern, der Heimat und ihrer Kindheit erzählt. Bis er irgendwann so viel darüber gewusst hatte, dass er glaubte, selbst schon einmal auf der kleinen Karibikinsel gewesen zu sein. In dem Gebäude mit der strahlend weißen Fassade und dem kleinen, steinernen Falken an der Balkonbrüstung. Im Hafen, wo die kleine Jacht ihres Vaters lag. An dem sauberen Strand. In dem warmen Meerwasser.
    »Wir wollten nach Barbados und dort bleiben«, sagte sie. »Wir wollten arbeiten, das Haus meiner Eltern kaufen und …«
    »Ja, wir waren ziemlich verrückt.«
    »Was ist daran verrückt?« Sie sah ihn vorwurfsvoll an.
    »Na ja …« Er schüttelte unschlüssig seinen Kopf, und die Flammen im Kamin tanzten im Rhythmus dazu. Er hatte lange Zeit nicht mehr über diese geplante Reise nachgedacht. Heute, mit einem Abstand von zwei Jahrzehnten, kam sie ihm wie jene Dinge vor, die man eben tat, wenn man jung war: leichtsinnig und ein bisschen verrückt. »Meine Tochter sagt immer: Manchmal muss man sich einfach trauen, verrückte Dinge zu tun. Denn später zeigt sich, so verrückt sind sie gar nicht.«
    Judith lächelte ihn an. »Alle Achtung, deine Tochter ist ein weiser Mensch. Ein bisschen Verrücktsein macht das Leben erst lebenswert.«
    Die Idee war damals über Nacht geboren worden. Sie hatten miteinander geschlafen, waren noch berauscht von der Hitze ihrer Körper und den Drogen, die sie konsumiert hatten. Zugleich waren sie von ihren Mitschülern angewidert, von den Lehrern, den Klausuren, den Noten, dem Stress und der Eintönigkeit, die zusammen ihr Leben zu vereinnahmen drohten. Auch von der rüden Berliner Mentalität, vom deutschen Winter, eigentlich von so gut wie allem. Also hatten sie den Plan gefasst abzuhauen.
    »Wir wollten einfach nur glücklich sein«, entsann sich Judith. »Unser altes Leben hinter uns lassen.«
    »Ja«, nickte Kalkbrenner. »Wir wollten
alles
hinter uns lassen.«
    »Denn erst wenn man alles hinter sich gelassen hat, hat man die Freiheit, etwas Neues zu beginnen.«
    In jener Nacht hatten sie sich vorgenommen, gleich am nächsten Morgen zu fliegen, ohne dass jemand von ihrem Plan erfuhr. Erst aus der Ferne wollten sie ihren Freunden und seinen Eltern erzählen, was sie getan hatten. Niemand sollte auf die Idee kommen, sie davon abzuhalten. Sie gingen nicht zur Schule und schwänzten eine Klausur, wenige Wochen vor dem Abitur. Noch immer auf der Welle der Drogen reitend, fuhren sie mit dem Bus zum Flughafen und klapperten die Schalter ab.
    »Unser weniges Taschengeld reichte nicht mal für einen Flug nach Barbados. Und was haben wir gemacht? Wir haben das Geld für eine halbe Woche in der Dominikanischen Republik ausgegeben.«
    Kalkbrenner schmunzelte.
Was für ein Tausch! Ein neues Leben gegen ein paar Tage Pauschalurlaub.
»Und die ganze Zeit über niemandem Bescheid gesagt.«
    »Als wir wieder zurück waren, haben wir ziemlichen Ärger gekriegt.«
    »Zu Recht«, stellte Kalkbrenner fest. »Wenn uns damals was passiert wäre … wir wären vom Erdboden verschwunden gewesen, und niemand hätte uns gefunden.«
    »Das war verrückt.«
    »Das war nicht verrückt, das war gefährlich. Herrje, so was würde ich heute nicht mehr machen.«
    »Warum eigentlich nicht?« Sie seufzte.
    Es gab tausend Gründe, die dagegen sprachen. Ein fernes Donnern rollte über die Uckermark. Regen prasselte auf das Dach.
    Judith beugte sich zu ihm vor. Er roch ihr Parfüm.
Chanel No. 5.
»Weil uns heute zu viel daran hindert. Zwänge. Verantwortung. Unsere Mitmenschen. Unsere Familie. Unser Beruf. Unser Alter. Wir sind für so etwas zu alt. Oder fühlen uns so. Wir trauen uns nicht mehr. Wir glauben, wir könnten es uns nicht leisten. Wovon sollten wir bloß leben? Ach, was weiß ich …«
    Sie hatten nie einen weiteren Versuch unternommen, ihren Plan in die Tat umzusetzen. Wenn etwas so Verrücktes nicht im ersten Anlauf geklappt hatte, wagte man es selten erneut, weil man bis zum nächsten Mal viel zu viel Zeit hatte, genauer darüber nachzudenken.
    Ihre Beziehung war noch ein oder anderthalb Jahre gut gegangen. Dann hatten sie sich getrennt. Er konnte sich nicht mehr an den Grund erinnern. Es war einfach irgendwie passiert. Schon

Weitere Kostenlose Bücher