Gier (Ein Paul-Kalkbrenner-Thriller) (German Edition)
Waffe. Doch als er die Türschwelle erreicht und einen Blick ins Innere geworfen hatte, steckte er die Pistole zurück. Er brauchte sie nicht mehr. Wer immer den Schaden zu verantworten hatte, war längst über alle Berge.
Knarzend schwang die Tür auf. Im Zimmer war die Couch umgestoßen und der Fernseher vom Sims gefallen, zum Glück aber nicht implodiert. Ein Bild hing schief an der Wand, ein Riss zog sich in Form eines Blitzes durch das Glas. Offenbar war es zu einem Handgemenge gekommen.
»Judith?«, rief er in die Stille.
Keine Antwort.
In der Küche lag zerbrochenes Geschirr am Boden. Glasscherben bohrten sich in seine Schuhsohlen.
»Judith?«, wiederholte er.
Nichts.
Im Schlafzimmer verteilten sich die zerwühlten Decken auf der Matratze, so wie er sie heute Morgen nach dem Aufstehen zurückgelassen hatte. Auf einem kleinen Schränkchen stand Judiths Reisetasche. Ihre Kleidung war über den Boden verteilt, als hätte sie jemand wütend durch den Raum geworfen.
Plötzlich vernahm Kalkbrenner ein Plätschern. Er schnellte herum. Ein beunruhigender Gedanke durchfuhr ihn, drohte ihn zu lähmen. Auch wenn es ihm schwerfiel, er kämpfte gegen den Drang an, stehen zu bleiben, sich dem Unaussprechlichen zu verweigern. Nach wenigen zitternden Schritten stand er im Bad.
»Judith?«
Die Wassertropfen plätscherten in das Emaillebecken. Der Hahn der Dusche war nicht richtig zugedreht.
Während er in den Wohnraum zurückkehrte, fiel ein Teil der Anspannung von ihm ab. Er war froh, im Bad nicht Judiths Leiche gefunden zu haben. Doch noch in der gleichen Sekunde machte sich die Sorge wieder in ihm breit: Wo war sie? Was hatte man ihr angetan?
Dunkle Vergangenheit hin, schmutzige Geheimnisse her, das Chaos in der Datsche war Beweis genug: Auch Judith war nur noch ein Opfer.
Aber wieso hatte man ihr Versteck gefunden? Kalkbrenner war vorsichtig gewesen. Keine Verfolger. Es gab fast niemanden, der überhaupt wusste, dass sich Judith in dem Ferienhaus aufhielt.
Außer …
Kalkbrenner hielt die Luft an. Ellen hatte es gewusst. Sie hatte es heute Morgen Rita verraten. Und seine Sekretärin hatte ihm vorhin erklärt:
Dr. Salm hat heute Mittag nach dir gefragt. Er wollte wissen, wo … und ich hab’s ihm gesagt.
War es möglich, dass ihr Vorgesetzter …?!
Kalkbrenner fluchte. Ein Kläffen antwortete. »Bernie?«
Wieder ein Bellen. Von draußen. Kalkbrenner hastete auf die Lichtung.
»Bernie!«
Das Gekläffe kam aus dem Unterholz. Kalkbrenner kämpfte sich durch das Dickicht am Boden. Zweige peitschten ihm ins Gesicht, aber er beachtete den schneidenden Schmerz nicht.
Er durchbrach noch mehr Gebüsch, bis ihm etwas zwischen die Füße geriet. Er stolperte, strauchelte. Noch im Niedergehen entdeckte er das Bein, das aus dem Gehölz herausragte. Dann fiel er mit dem Kopf voran in einen Strauch voller Beeren. Er warf die Arme hoch, doch die Stacheln rissen ihm die Hände auf.
Wie betäubt stemmte er sich wieder hoch und drehte sich langsam um. Nein, was er für ein Bein gehalten hatte, war nur ein dünner, hellbrauner Baumstamm, den die Forstverwaltung anscheinend vor langer Zeit gefällt hatte. Erleichtert wischte er sich das Blut an der Hose ab.
Ein Schatten sprang von hinten auf ihn zu. Kalkbrenner wirbelte herum. Seine Hand glitt unter die Jacke, doch noch ehe er die Waffe zu packen bekam, leckte Bernie ihn auch schon ab.
»Wo hast du gesteckt?« Er versuchte, sich der Zunge des Bernhardiners zu entziehen. Aus treuen Hundeaugen blickte der Vierbeiner ihn an.
»Wo ist Judith?«
Bernies Schwanz wedelte erfreut.
»Ist sie in den Wald geflohen?«
Der Bernhardiner hechelte.
»Oder hat man sie hier einfach …?«
Er brach ab, schluckte, dann setzte er sich wieder in Bewegung. Bernie folgte ihm auf dem Fuß. Gemeinsam suchten sie die Umgebung ab, zwängten sich durch das Unterholz, kreuz und quer durch den Wald. Äste und Zweige knackten, scheuchten Vögel und ein Reh auf. Von Judith fehlte jede Spur.
Die Dämmerung zog herauf. Schatten legten sich zwischen die hohen Pappeln. Die Bäume verwandelten sich in riesige schwarze Verfolger.
Später brach die Nacht über der Uckermark an. Mit dem letzten Licht schwand auch Kalkbrenners Hoffnung. Er verharrte, lauschte in die Lautlosigkeit. Sogar Bernie spitzte die Ohren. Nichts. Grabesstille. Nein, nicht ganz. Von irgendwoher wehte ein Handyklingeln herüber.
Er rannte los. Das Läuten wurde lauter. Er spurtete. Sein Körper sträubte sich gegen die
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