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Gier (Ein Paul-Kalkbrenner-Thriller) (German Edition)

Gier (Ein Paul-Kalkbrenner-Thriller) (German Edition)

Titel: Gier (Ein Paul-Kalkbrenner-Thriller) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Krist
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einer Flasche Selters, goss sich das Wasser in ein Glas und trank einen Schluck. Nachdem er abgesetzt hatte, leckte er sich die Lippen. »60 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Neukölln stammen aus Migrantenfamilien. Sie kommen in der Regel aus dem Unterschichtmilieu, haben Elternhäuser, die bildungsfern sind. Jeder fünfte Jugendliche gilt als Risikoschüler, ohne auch nur elementare Fähigkeiten im Lesen und Rechnen zu besitzen. Manche können ja noch nicht einmal richtig sprechen.«
    Kalkbrenner hatte sofort die kleine Marjia vor Augen. Bergers betroffene Miene zeigte, dass er an das Gleiche dachte.
    »Die Verhältnisse, in denen die Kinder und Jugendlichen aufwachsen, sind erschreckend. Arbeitslosigkeit und Armut!«, fuhr Kassner fort. »Viele kommen zudem aus Familien, in denen Alkohol ein Problem ist. Die drei großen A bestimmen das Leben in Neukölln.«
    Er machte eine Pause, vergewisserte sich, dass die beiden Polizisten ihm nach wie vor ihre volle Aufmerksamkeit schenkten. Vermutlich kam es nicht alle Tage vor, dass er auf interessierte Zuhörer stieß. »Also, was bleibt den Jugendlichen? Sie landen in der Hauptschule, die eigentlich nur noch eine ungeliebte ›Restschule‹ ist – für Jugendliche, die anderswo nicht mehr erwünscht sind. Wenn sie die Schule verlassen, ist da nichts, was sie erwartet. Sie sind überflüssig. Und was macht ein Jugendlicher ohne Ausbildung, ohne Arbeit, ohne Geld und vor allem ohne jede Hoffnung darauf, dass sich irgendetwas daran ändert? Viele treibt eine Mischung aus Not, Langeweile und dem diffusen Wunsch, sich für all die erlittenen Demütigungen zu rächen, auf die Straße. Dort gelten eigene Regeln. Das Recht des Stärkeren. Ein täglicher Überlebenskampf beginnt.«
    »Der vor dem Jugendgericht endet«, bemerkte Berger.
    Kassner lachte auf. »Natürlich, das Jugendgericht.« Er vergewisserte sich mit einem scheuen Blick zur Tür hin, dass sein Chef nicht unerwartet im Anmarsch war. »Und natürlich härtere Strafen, mehr Abschreckung, stärkere Repressionen, so wie es die Herren Politiker fordern, gerade jetzt vor den Wahlen – und damit auf offene Ohren bei den verunsicherten Bürgern stoßen. Ja, ja, Klappern gehört zum Wahlkampf … Glauben Sie ernsthaft, dass ein verschärftes Strafrecht irgendetwas verbessert? Es sperrt die Jugendlichen weg, okay, aber die sozialen Ursachen dieses Teufelskreises kann man nicht so einfach entfernen.«
    »Was schlagen Sie vor?«, fragte Kalkbrenner.
    »Wer würde denn auf mich hören?«
    »Ich.«
    Kassner schnaubte verächtlich. »Sie suchen doch nur Ihre Mörder.«
    »Richtig«, pflichtete Berger bei. »Und genau deshalb müssen wir mit Asim und Lukaz reden. Wir glauben, dass sie den Täter gesehen haben. Vielleicht sind sie deshalb sogar in Gefahr.«
    »Sie sollten mal aus dem Fenster schauen.«
    Aus einem Impuls heraus wandten Kalkbrenner und Berger gleichzeitig den Kopf zum Fenster: nichts außer Autos, die vor dem Gebäude parkten.
    Kassner lachte laut auf. »War nur bildlich gesprochen. Wer hier lebt, wächst mit der Gefahr auf. Diebstahl. Überfälle. Gewalt. Drogen. Prostitution. Missbrauch. Vergewaltigung. Das alles ist Alltag. Normales Leben. Also bitte, kommen Sie den Jungen nicht mit Gefahr.«

24
    Sein eigenes Schlafzimmer war Dossantos fremd geworden. Dabei war der Raum wie der Rest der Finca mit allem erdenklichen Luxus ausgestattet, den er sich je gewünscht hatte: ein Beamer und eine Leinwand für Filmprojektionen, Spiegel über dem Bett, ein kleiner Kühlschrank, Perserteppiche, verklinkerte Wände, eine Klimaanlage. Sogar ein Whirlpool in der Form einer aufgeklappten Muschel war wenige Meter neben dem Bett in die Marmorfliesen eingelassen.
    Doch alle Annehmlichkeiten wurden bedeutungslos angesichts der Apparaturen, die seit Jahren um das Bett gruppiert standen. Er wusste nicht einmal, wofür sie im Einzelnen gut waren. Er wollte es auch gar nicht wissen. Es reichte, wenn er mitbekam, dass sie Teil des Verfalls seiner Frau waren. Krankheit und langsames Dahinsiechen hatten nichts mit seinem Leben zu tun. Sie hatten es noch nie getan. Deshalb gehörte das Schlafzimmer inzwischen ausschließlich Catharina. Hier fand seine Gattin jeden Abend ihre Ruhe, aber auch nur, weil Sina ihr zuvor ein Schlafmittel spritzte.
    Die Krankenpflegerin, eine Spanierin Anfang 30, wieselte auch jetzt flink hin und her. Jeder ihrer Handgriffe war schnell und routiniert. Dossantos stand still im Hintergrund, beobachtete sie

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