Gier (Ein Paul-Kalkbrenner-Thriller) (German Edition)
unternehmen. Aber was? Er kam sich allein und verlassen vor. Als er sich umdrehte, wartete seine Frau Martina auf der Schwelle zum Schlafzimmer. Er fragte sich, wie lange sie dort schon gestanden und wie viel von der Auseinandersetzung sie mitbekommen hatte. Ihrem strafenden Gesichtsausdruck nach zu urteilen, mehr als genug.
Keiner von beiden ergriff das Wort. Über ihren Sohn sprachen sie nicht mehr. Längst war alles gesagt worden.
Hönig nestelte wieder an der Krawatte, deren Enden noch immer lose um seinen Hals hingen. »Du willst wirklich nicht mit zu Frieder kommen?«
»Was soll die Frage?« Martina machte keinerlei Anstalten, ihm mit dem Schlips zu helfen.
»Es ist doch nur, weil …«
»Ich dachte, die Sache hätten wir geklärt.«
Krachend fiel auch die Schlafzimmertür ins Schloss. Das Gefühl der Einsamkeit wurde übermächtig. Hönig flüchtete ins Bad. Zu seinem Spiegelbild sagte er leise: »Ja, das hatten wir.«
Inzwischen war er eine halbe Stunde zu spät. Dabei hatte Frieder ausdrücklich um pünktliches Erscheinen gebeten. Hönig band die Krawatte mit einem einfachen Knoten. Der musste reichen. Vermutlich würde sowieso niemandem der Unterschied auffallen.
23
Nach dem ergebnislosen Besuch bei Lukaz’ Eltern wollten Kalkbrenner und Berger Asims Vater aufsuchen. Doch obwohl aus dessen Wohnung Gebetsmusik erklang, öffnete niemand auf ihr Klingeln. Also fuhren sie weiter zum Sozialen Dienst der Justiz in Schöneberg. In einem der verschlungenen Gänge des Gebäudes trafen sie auf Gerhard Kassner.
Als der den Bernhardiner bemerkte, brummelte es unfreundlich aus seinem bärtigen Gesicht: »Tiere sind im Haus normalerweise nicht erlaubt.«
»Dann machen wir heute eben mal eine Ausnahme«, schlug Kalkbrenner vor. »Ist ja auch nicht normal, dass Beamte an einem Samstag arbeiten.«
»Ich bin nur Sozialarbeiter, kein Beamter.«
»Sie nicht, aber wir.« Kalkbrenner hielt ihm den Dienstausweis vor die Nase.
Kassner seufzte. »Und welcher meiner Klienten hat diesmal was ausgefressen?«
»Wir würden uns mit Ihnen gerne über Asim Kapkin unterhalten.«
»Schon wieder? Ich hab Ihren Kollegen doch bereits alles gesagt.«
»Dann erzählen Sie es uns eben noch einmal.«
Kassners Büro war ein kleiner, mit Schrank, Schreibtisch und zwei Plastikhockern hoffnungslos überladener Raum. Der Sozialarbeiter drückte sich hinter den schmalen Schreibtisch. Den Teller mit zwei belegten Brötchen schob er beiseite.
»Nein«, sagte er und rieb sich seinen dichten, fleckig grauen Vollbart. Ein paar Brötchenkrümel fielen wie Flöhe heraus. »Asim hat sich nicht bei mir gemeldet.« Er zuckte hilflos mit den Schultern. »Was soll ich da machen?«
»Reden Sie mit seinem Vater«, schlug Kalkbrenner vor und nahm auf einem der billigen Plastiksitze Platz. »Oder reden Sie mit der Familie Vurikovici. Deren Sohn Lukaz stand ja ebenfalls mal auf Ihrer Klientenliste.«
»Warum soll ich mit denen reden?«
»Sie sind der Bewährungshelfer der Jungs«, sagte Kalkbrenner. »Zu Ihnen haben sie Vertrauen.«
»Richtig, und das werde ich auch ganz bestimmt nicht aufs Spiel setzen. Sonst bin ich als Sozialarbeiter erledigt …« Ein spöttisches Keuchen erklang. »Außerdem: Glauben Sie ernsthaft, die Leute würde ihre Familie oder ihre Freunde verpfeifen?«
»Sie sollen ja auch niemanden verpfeifen«, korrigierte Kalkbrenner. »Wir wollen nur, dass Sie dafür sorgen, dass wir mit den beiden Jungen sprechen können.«
Kassner kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. »Nur mit ihnen sprechen?«
»Wir wissen, dass die beiden nicht die Mörder sind.«
»Nicht?« Kassner zog den
Berliner Kurier
mit der Überschrift
Killerschüler!
heraus. »Dann ist da aber was im Informationsfluss schiefgelaufen.«
»Sie kennen die Presse.«
»Ich kenne auch die Polizei.«
»Herr Kassner, wir wollen hier keine Grundsatzdiskussion führen …«
»Aber genau das ist es doch«, unterbrach Kassner, »erst interessiert es die Polizei einen Scheißdreck, wie es diesen Menschen geht; sie schert sie alle über einen Kamm, behandelt sie per se wie Kriminelle. Und dann glaubt sie, sie findet offene Türen vor, wenn sie ihre Hilfe braucht. Nein, egal was Sie von diesen Leuten wollen, so funktioniert das nicht. Die Zweifel sind tief verwurzelt.«
»Und diese Zweifel mischen sich immer häufiger mit Wut«, sagte Kalkbrenner aus Erfahrung.
»Nein«, widersprach Kassner. »Nicht nur Wut.«
»Was noch?«
Der Bewährungshelfer griff nach
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