Gier (Ein Paul-Kalkbrenner-Thriller) (German Edition)
zuckte mit den Schultern. »Hier jedenfalls nicht.«
»Weiß dein Vater, wo er ist?«
»Nein!«
»Weißt du es?«
»Nein!«
»Ist er bei seinen Freunden?«
»Nein.«
»Bist du dir sicher?«
»Ja.«
Seine Mimik, Gestik und die Worte ließen Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Gesagten. »Wo versteckt er sich?«
»Er versteckt sich nicht.«
»Warum finden wir ihn dann nicht?«
»Mann«, brüllte der Junge jetzt, »Lukaz ist kein Mörder!«
Marjia begann zu heulen. Die Mutter kam ins Zimmer gerannt, ihre Augen waren rot unterlaufen. Sie nahm das Kind auf den Arm und trug es aus dem Raum.
Kalkbrenner begab sich durch den Flur zur Haustür. Sein Kollege blieb zurück, wagte noch einen Versuch. »Herr Vurikovici, wenn Sie auch nur die kleinste Ahnung haben, wo sich Ihr Sohn aufhalten könnte, dann sagen Sie es uns bitte. Möglicherweise ist sein Leben in Gefahr.«
Sascha baute sich vor ihm auf und spannte demonstrativ seine Armmuskeln an.
Berger zuckte erschrocken zusammen. »Herr Vurikovici«, sagte er schnell, »wir möchten Ihrem Sohn nur helfen.«
Vurikovici redete leise. Sascha fiel ihm ins Wort. Es hörte sich nicht nach einer Drohung an, aber freundlich klang anders. Dessen ungeachtet sprach der Vater weiter, diesmal überraschend auf Deutsch, jedoch mit einer Verbitterung, die sich über Jahrzehnte hinweg angestaut hatte: »In Rumänien war ich im Gefängnis. Danach kam ich nach Deutschland. Ich wollte ein besseres Leben für meine Familie. Doch auch in Deutschland sind wir unerwünscht. Ich bin arbeitslos. Niemand hilft mir. Ich muss mich alleine um meine Familie sorgen. Immer mussten wir uns selbst helfen. Warum sollte es jetzt anders sein?«
22
Karl-Edmund Hönig bemühte sich ebenso verzweifelt wie erfolglos, seine Krawatte in eine angemessene Form zu bringen. Der Windsor-Knoten gelang ihm auch im dritten Versuch nicht, die Zeit wurde immer knapper. Dabei hatte er sich nach der Rückkehr aus Neukölln extra beeilt. Er wollte nicht zu spät zur Party kommen, zu der die von Hirschfeldts am letzten Abend vor der Wahl ihre engsten Freunde empfingen.
Er unternahm einen neuen Anlauf, und endlich schien er die richtige Abfolge der Bewegungen erwischt zu haben. Da huschte im Badezimmerspiegel ein Schatten hinter ihm vorbei. Hönig verpasste die Schlaufe, und der halb fertige Knoten löste sich in Wohlgefallen auf.
Mit baumelnden Krawattenenden zu beiden Seiten seines Halses lief er in den Flur. »Lars?«
Sein Sohn blieb vor der Tür seines Zimmers stehen. »Was ist?«
»Wir müssen miteinander reden.«
»Mir ist aber nicht danach.«
»Es ist wegen heute Mittag.«
»Schon klar.«
Hönig bemühte sich um Freundlichkeit. »Kannst du mich bitte ansehen, wenn ich mit dir rede?«
»Ich bin kaputt und möchte schlafen.«
»Findest du es richtig, wie du dich heute aufgeführt hast?«
»Ich dachte, ihr mögt es, wenn ihr euch mit euren Familien zeigen könnt.«
»Veralbern kann ich mich selbst.«
»Schön, dann kann ich mir das ja sparen und mich endlich aufs Ohr hauen.«
»Ist dir völlig egal, was andere über dich denken?«
»Du hast es erfasst.«
»Deine Freunde zum Beispiel: Thomas oder Christian.«
»Alles Langweiler!«
»Oder deine Freundin. Was ist mit deiner Freundin?«
»Welche Freundin?«
Hönig hatte gar nicht mitbekommen, dass sein Sohn sich von seiner Freundin getrennt hatte. »Dann nimm wenigstens auf uns Rücksicht!«
»Ach so, auf deine Karriere!«
»Nein, nicht auf meine Karriere«, erwiderte Hönig. »Es geht um Frieder …«
»Dessen Posten als Fraktionsvorsitzender du bekommen wirst.«
»… und die Möglichkeit, Politik zu gestalten. Es geht ums Mitbestimmen, Entscheidungentreffen. Verstehst du?«
»Ach komm, das glaubst du doch selbst nicht!«
»Die Wähler schenken uns ihr Vertrauen, deshalb übernehmen wir eine große Verantwortung …«
»Auf deine Verantwortung scheiße ich!«
Sein Sohn wollte ins Zimmer fliehen. Hönig hielt ihn auf. Etwas knirschte. Aus Lars’ Jackentasche fielen kleine bunte Pillen auf den Boden. »Sind das Drogen?«
Lars ging in die Hocke und klaubte die Tabletten zusammen.
»Also, was ist? Nimmst du wieder Drogen?«
Sein Sohn erhob sich, stopfte alles in seine Hosentasche. »Und wenn schon, ich bin alt genug.« Er stürmte die Treppe hinunter und schlug mit einem lauten Knall die Haustür in den Rahmen. Die Bilder an den Wänden wackelten.
Wie betäubt stand Hönig im Flur. Er musste etwas gegen das Gefühl der Hilflosigkeit
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